Reinhold Knoll
Krisen
Was können wir dagegen tun?
Essay
Es gibt Naseweise, die uns beruhigen, da alles halb so schlimm sei. Bleibt dennoch eine Hälfte übrig, die schlimm genug ist. Womit versucht man uns zu beruhigen? Mit Fernsehserien und mit einem gescheiten Hinweis? Wobei der Hinweis enthüllt, was wir bislang nicht benennen wollten: Wir stecken in der Krise, heißt es aufklärend, und – sie soll uns nicht beunruhigen!
Jetzt ist das Stichwort gefallen: Krisen hat es immer gegeben. Das beruhigt ungemein. Es erinnert an den Titel eines gescheiten Buches von Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Da stehen die beiden eineiigen Zwillinge nebeneinander. Die Kritiken hat Kant erfunden und somit unser bisheriges Fundament erschüttert. Vorher lebten wir kritiklos und fröhlich dahin. Im Spätbarock soll es das Leben eines Taugenichts gegeben haben. Da hat uns Kant unsanft aufgeweckt.
Weshalb weckte er uns? Damit wir uns mit Mut, Zuversicht, Witz und Urteilskraft aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. Mit Kant´s drei Kritiken wachten wir in einer Neuen Welt auf.
Die Krise hat uns hingegen die alte Welt neu beschert. Die einen wollten so tun, als wäre überhaupt nie etwas passiert. Das war das Wunschprojekt von Edmund Burke, das der Kant-Schüler Friedrich Gentz übersetzt und als konservative Ideologie angeboten hat.
Die anderen sahen in der Krise die einmalige Chance zur Neubewertung aller Werte. Da breitete sich bereits der Ludergeruch der Revolution aus. Sie hat mit einem Theaterstück harmlos begonnen. Provokant verfasste Beaumarchais in der Hochzeit des Figaro den Schluss-Satz: Und immer siegt Voltaire.
Zu unserer Beruhigung belastet man uns weniger mit Kant, noch weniger mit den Schwierigkeiten einer Ethik. Jetzt könnten wir allerdings eine Ethik gut gebrauchen: Solidarität, Verantwortung, Wahrung personaler Integrität. Seit Max Weber war sie für alle Zeiten in Gesinnungs- und Verantwortungsethik getrennt worden. Im Grunde können wir mit Ethik überhaupt nix mehr anfangen. Sie hindert uns an der Spontaneität unseres liberalen Handelns. Sie ist wie ein kultureller Hemmschuh, weil sie uns ans schlechte Gewissen erinnert. Vor solchen Konsequenzen schützen uns die Wiener Philosophen.
Für sie war Ethik in erster Linie eine Machtfrage am Institut. Daher träufeln sie uns jetzt die Schlafmittel des Bedeutungslosen in die Lektüre. Obendrein ist alles schon einmal dagewesen, sagt man. Also ist eine Krise das Immer-schon-Dagewesene, sagen Philosophen und rüsten sich zum Mittagsschlaf. Die jetzt heraufbeschworene Krise ist nichts anderes als Ungewissheit. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt?
Krisen bedrängen uns in bekannter Regelmäßigkeit.
Im Café ist man jetzt Philosoph, wenn man sagt: Ruhig Blut! Und naseweis hinzufügt, dass Krise aus dem griechischen krinein kommt. Das heißt nur: sich entscheiden.
Wir können uns aber jetzt nicht entscheiden. Zur Zeit sind wir weitgehend unentschieden, zur Entscheidung unfähig, fast gelähmt. Das gehört eben zu einer Krise. Daher sagt man: Mit Zeit kommt Rat, obwohl die Wirtschaftsleistungen sinken, der Wirtschaftsmotor stottert. Die Konvertibilität unseres Geldes stellen dubiose Kryptowährungen in Frage. Das Thermometer der Krise ist der Goldpreis. Er ist zwischen 2015 und 2025 um 187% gestiegen. Wir werden nervös.
Wir suchen in der Geschichte nach Beispielen. Es liegt auf der Hand bei Montesquieu, Gibbon, Mommsen, Max Weber nach der Ursache des Niedergangs des römischen Weltreichs zu suchen. Die Ursachen vom Ende des west- und oströmischen Reiches sind bis heute beunruhigend.
Was ist aus dem Erfolgsmodell der Moderne geworden? Das Auto ist zum sichtbaren Merkmal der Krise geworden. Dank Auto sind wir über Jahre entweder den Problemen davongefahren oder sind mit Höchstgeschwindigkeit in die Problemzonen geraten.
Die erste Ölpreiskrise war im Oktober 1973. Sie hätte uns wieder Sesshaftigkeit lehren sollen. Auf die Ölpreiskrise antworteten wir hingegen mit dem Kauf eines Zweitautos – zwar kleiner als das erste, aber sparsamer. Zugleich war es der schlagende Beweis für das Fehlen jeder kollektiven Vernunft.
Vor 50 Jahren war alles auf Fortschritt ausgerichtet. In Europa schätzte man sich besonders klug ein, denn die Arbeit machten zunehmend die anderen – Immigranten. Mit Schadenfreude beobachtete der Westen den ökonomisch unterlegenen Osten.
Beim Rückblick geben wir zu, über unsere Verhältnisse gelebt zu haben. Daraus formte sich das Bewusstsein, in der Krise zu sein.
Was sollen wir tun?
Die Wendepunkte, nach denen es bergab ging, kennen wir gut: Wer hatte angenommen, dass nach dem Fall der Berliner Mauer sich im ehemaligen Osten rechtsextreme Mehrheiten bilden werden? Oder: Wer erwartete in Ungarn Orbán? Wer befürchtete nach Gorbatschow das neue Russland? Wie viele glaubten, Donald Trump wird nur ein groteskes Zwischenspiel bleiben? Wer hatte ernsthaft angenommen, dass es in Europa wieder einen Krieg geben wird? Alle täuschten sich, weil man bis jetzt China mit dem konfuzianischen China verwechselt. Deshalb bemerkten wir bis vor kurzem nicht, dass China die führende aggressive Weltmacht ist.
Wir leiden an einer Welt, die die gegenwärtige Weltpolitik zu traumatisieren begann. Traurig, dass sich sogar ein indischer Präsident, Narendra Modi, von der Politik der blockfreien Staaten Pandit Nehrus lossagte. Jetzt herrscht auch dort – wie überall der Irrsinn – der Hindu-Nationalismus.
Wir sind in eine lärmende Welt geraten. Wollte Friedrich August von Hayek aus der Wirtschaftswelt einen Jahrmarkt machen? Alles ist zur Ware geworden. Also wurde unser Leben markt- und warenförmig. Durch alle Fenster dringt der Lärm der Marktschreier herein. Bei Lärm kann man nicht denken – aber Lärm vermehrt das Kapital.
Ich bin lieber taub als betäubt.
Wir haben auf den Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals vergessen*): Die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. Im Lärm merken wir nicht, was die Dinge beredt verschweigen. Wir könnten es inzwischen wissen, was uns täglich gesagt wird: im Da-Sein der Teekanne, durch den Schwung eines Thonet-Sessels, mit der Mystik eines Bergkristalls. Weil wir die Dinge nicht mehr aufmerksam verstehen, haben wir jede Zuversicht verloren.
Und wir glauben noch immer, die Wirklichkeit zu kennen, die aber heute anders aussieht: ein Putin sitzt wie ein bösartiger Kobold im Moskauer Zarenpalast, ein US-Präsident lässt den Ostflügel des Weißen Hauses in Washington abreißen. Im O-Ton heißt es, an gleicher Stelle soll ein Ballsaal entstehen; hinter vorgehaltener Hand munkelt man, es wird der Thronsaal für Donald Trump sein. Und Xi? Für ihn ist die Welt ein riesiges Brett für sein Go-Spiel. Feld um Feld nimmt er ein, während Putin Fress-Schach spielen will und Trump Monopoly.
Sie regieren die Welt wie unerzogene und bösartige Kinder. Sie bilden sich ein, sie müssen der Erde einen Hax´n ausreißen. Damit solche pubertäre Jugendliche für die künftige Welt gerüstet sind, überlassen wir sie den Computerspielen. Als Individuen kehren sie wieder in die Urhorde – nach Sigmund Freud – zurück. Die elektronische Spielmetaphorik erleichtert den Atavismus. Plötzlich wird ein alter Lehrsatz ironisch: Non scholae sed vitae discimus.
Nur in den unbelebten Dingen erleben wir unsere Präsenz in der Welt. Hofmannsthal schrieb weiter – in der Aufmerksamkeit für die Dinge erfahren wir das Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte.
Gegenwärtig ist es der einzige Fluchtort, der uns bleibt. Selbst wenn die Welt um uns in Brüche geht – und die Wahrscheinlichkeit ist hoch – bleibt die intime Welt der Dinge bestehen – jene einer silbernen Zuckerdose, einem geschmiedeten Handlauf oder einer neolithischen Vase. Sie strahlen die zugesagte Zuversicht aus in der Dauer ihres Bestands. Zuversicht ist uns zugesagt, da die Dinge Tag für Tag ihre Funktion erfüllen. Daraus besteht die Wirklichkeit. Allerdings sind wir d´rauf und d´ran, sie um jeden Preis durch hybride Wirklichkeiten zu ersetzen und zu zerstören…
*) „Chandos-Brief“ nannte Hugo von Hofmannsthal das fiktive Schreiben eines 26-jährigen Lord Chandos an Francis Bacon um 1602. Hofmannsthal verfasste den „Brief“ 1902. In diesem machte er auf den „Sprachverlust“ als eminente Gefahr seiner Zeit aufmerksam und damit ist es die erste Stimme, die sich gegen den überragenden Erfolg des Fin de siècle und „Ver sacrum“ wendet
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