Reinhold Knoll
Europa zurück an den Start
Oder:
Das Ende des Superstaats
Analyse

Vor 25 Jahren hatte Hermann Lübbe ein Büchlein veröffentlicht, das nicht beachtet wurde. Jetzt erlebt es eine Neuauflage. Damals herrschte eben der Euro-Optimismus und jedes Jahr, war behauptet worden, wird Europa immer mehr zusammenwachsen. Daher kam die lakonische Mitteilung Lübbes zum völlig falschen Zeitpunkt: Er behauptete beharrlich, dass es Europa als Superstaat nicht geben werde. Und wer damals gegenüber der EU Bedenken äußerte, war entweder ein Gegner mit jeweils totalitärem Hintergrund links wie rechts, oder ein dem Gestern verhafteter altbackener Patriot seines Nationalstaates.

Vor 30 Jahren war die Union im Eiltempo gewachsen. Waren die Römer Verträge von 1957 das Muster gewesen, so wurde im Vertrag von Maastricht 1992 eine deutlich definierbare Vereinigung entworfen, noch detaillierter geregelt im Vertrag von Nizza 2000/03, in dem das Prinzip der Einstimmigkeit durch das Erreichen qualifizierter Mehrheit ersetzt werden sollte.

Die in Rom 2004 in Aussicht genommene Verfassung der Europäischen Union wurde durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Nun war es nötig, in Lissabon ein verfassungsartiges Regelwerk 2007 zu ermitteln, das dann auch einen europäischen Finanzrahmen vorsah und auch realisierte. Die Verfassung für Europa blieb ein Desideratum, wenigstens im Schengen-Abkommen wurden die innereuropäischen Grenzen beseitigt, aber für die Außengrenzen der EU fehlte eine konkrete Regelung, bzw. war eine Hilfestellung der EU für die Anrainerstaaten des Mittelmeers nicht vorgesehen. Da fehlte bereits der übernationale Konsens.

Die Harmonisierung der europäischen Ausbildungssysteme wurde im Bologna-Prozess von 1999 beschlossen, ohne sich der Problematik standardisierter Ausbildungssysteme zu stellen. Die Unterschiede der Universitäten in Europa waren nicht als Reichtum und Gedankenfreiheit angesehen worden.

Ein bitterer Wermutstropfen wurde dann vom Vereinigten Königreich 2020 der Europäischen Union verabreicht: der Brexit. Ein wichtiges Mitglied hatte sich vom Superstaat verabschiedet. Allerdings war der Brexit das Ergebnis einer unglaublichen Fahrlässigkeit eines Kommissionspräsidenten, der angeheitert meinte, die Sorge des britischen Premiers um die insulare Eigenständigkeit würde nach erfolgreicher Volksabstimmung unbegründet sein.
Das ging gründlich daneben!


Nach dem Brexit

Ab 2020, dann speziell während der Pandemie bis 2023, waren Belastungsszenarien für die EU an der Tagesordnung: die Sanierung von Griechenlands Staatsbankrott, die Abwanderung von Produktionsbetrieben aus Europa, die gestiegenen Energiekosten, die Migrationswelle und ein deutlicher Anstieg soziokultureller Spannungen. Inzwischen war die lediglich auf Reflexionen gründende Buchreihe Europa Bauen der bei weitem erfolgreichere Beitrag einer Einigung, die in der Zwischenzeit immer größeren Schaden durch die politischen Zentrifugalkräfte hinnehmen musste. Wie gering der Konsens in der EU ist, wurde vor allem durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sichtbar.


Wie weiter in Europa?

Die politische Gegenwart wird in Europa weit mehr von Phänomenen der Trennung, vom politischen Dissens und von politisch retardierten Bewegungen charakterisiert. Blieb also Lübbe noch der Meinung, die nationalen Differenzen würden in Europa nicht bewältigt, da dahinter konfessionelle, traditionelle und innereuropäische Nord-Süd-Konflikte stecken, unterschiedliche Sprachen und gegenläufige Enkulturationen, so hat Shmuel Eisenstadt in seiner Darstellung der Antinomie der Moderne die innereuropäische Unverträglichkeit auf die steigende Anzahl von Modernisierungsverlierern zurückgeführt. Und diese Konfliktebene ist noch einmal zwischen den alten, sozial deklassierten, frustrierten und entwurzelten Eingeborenen und jenen Modernisierungsverlierern aufgeteilt, die in ihrer unfreiwillig auf sich genommenen Wanderungsbewegung von Afghanistan bis Nigeria nach Europa drängten und hier die Integrationsleistung immer schlechter erbringen können.

Eisenstadt beschrieb 1992 sehr präzise, dass die in Europa lebenden Migranten der dritten Generation auf der Suche nach ihrer Identität sich radikalisieren und damit aus dem Integrationsprozess in die Gesellschaft und damit in die Moderne ausscheiden. Sie reproduzieren in der neuen Heimat die imaginierten Herkunftsorte der Großeltern in Anatolien, das theokratische Emirat Afghanistans, oder sind wieder mitten in Berlin die Yorubas in Nigeria. Und im Bericht des deutschen Innenministeriums über Integration und Migration unter dem Innenminister Wolfgang Schäuble von 1991 war schon längst diese Tendenz erhoben worden, dass nämlich die Integration, in der beide Seiten eine Leistung zu erbringen gehabt hätten, vor allem daran scheitert, dass die moderne Gesellschaft kaum über Sozialisationsagenturen verfügt, wie sie dereinst Schule, Militärdienst und konfessionelle Zugehörigkeit waren.


Flucht in die Identität

Von anderer Seite blieb in Erinnerung, dass einer der frühen Pioniere der Soziologie, Ludwig Gumplowicz, in Graz unter dem etwas irreführenden Titel Rassenkampf schon 1883 publizierte hatte, dass gesellschaftliche Durchmischungen durch Arbeitsmigrationen und Wanderungen ab einem gewissen Punkt zu Entmischungen führen, zur Flucht in irrationale Rassismen und identäre Identität, wo sogar die von Marx als soziales Axiom dargestellte Klassenzugehörigkeit sich in eine hysterisch-ethnisch übersteigerte Zugehörigkeit verwandelt.

Wie im Bilderbuch spielen sich ähnliche soziopolitische Transformationen in Europa ab. Einige Staaten Europas sehen ihre Mitgliedschaft bei der EU bereits als unverbindlich an, wie Ungarn, andere wieder beginnen in der EU einen Block zu bilden, in dem aus Zufall oder intellektuellem Unvermögen die französischen wie deutschen rechtsextremen Vertreter noch nicht zusammenfanden. Da wird Österreichs Beitrag nicht lang auf sich warten lassen. Immer häufiger werden politische Wünsche formuliert, die die gemeinsam beschlossenen Regeln der EU aushebeln.


Verschrottung der Demokratie?

Die entscheidende Wende waren die dramatischen Sitzungen im deutschen Bundestag vom 29.1. und 31.1. 2025. Die heftige und beleidigende Konfrontation der Parteien in der politischen Mitte im Bundestag zeigte in erster Linie das Ende der Konsensdemokratie. Diese war in Österreich schon ein paar Monate früher zugrunde gegangen und ab nun wird die Demokratie Stück für Stück verschrottet. In Deutschland werden die Wahlen am 23. 2. darüber entscheiden.

Diese werden ohne Not die Dialogfähigkeit zwischen den Parteien weiterhin beschädigt haben, wobei diese Parteien auf zwei leicht zu bewältigenden Gegenpositionen beharren. Der CDU-Chef hatte der von ihm selbst errichteten politischen Brandmauer gegenüber der AfD schwere Risse zugefügt, wie auf der anderen Seite die Reste der Ampel-Regierung ihre politische Lethargie mit politischer Moral aufpolieren.

Gerade weil die fast regelmäßigen Attentate in Deutschland nach politischer Verantwortung verlangen, war die Regierung bei ihrer routinierten Gleichgültigkeit geblieben, sowie Friedrich Merz natürlich den Anlass dieser Mordserie nicht verstreichen lassen wollte. Freilich bedenkt er nicht, dass vielleicht die Empörung in der deutschen Gesellschaft überschätzt wird.

Das gesellschaftliche Mitgefühl beschränkt sich aufs Anzünden von Kerzen am Tatort, auf eine Versammlung der de facto Agnostiker und Atheisten im einzigen örtlichen gotischen Versammlungsraum bei Orgelklängen. Es bleibt zwar beim medialen Gezeter, das bald verhallt – wenn nicht, ja wenn nicht die öffentliche Erregung auf die Mühlen des Extremismus geleitet wird.

Deutschland ist damit in einer fatalen Situation, auch wenn der zweite Tag der Abstimmung von Merz sensationell verloren wurde! Offenbar hat er die Partei nicht mehr zur Gänze hinter sich, wie ja schon tags zuvor Angela Merkel dem Parteichef ungebeten in den Rücken fiel.


Der europäische Mensch

Die Chancen eines Wahlerfolgs steigen für Olaf Scholz exponentiell, denn viele in Deutschland teilen den politischen Quietismus des Bundeskanzlers. Er besitzt die gleiche unbeirrbare Ruhe des Aussitzens, die vor ihm in diesem Ausmaß nur Friedrich III. besaß – Kaiser von 1452 bis zum Tod 1493 in Linz. Der hatte nie etwas insinuiert, aber erworben – Ungarn, Burgund.

Nun hat allein die Verschärfung der Sicherheits- und Grenzbestimmungen durch Friedrich Merz die Tradition nicht nur seiner Partei, sondern auch Deutschlands in die neue Rolle gedrängt, den meisten Richtlinien der EU zu widersprechen – wie Giorgia Meloni, Viktor Orban, Robert Fico, Geert Wilders, Herbert Kickl, Marie Le Pen, Alice Weidel. Er merkte nicht, mit den Wölfen zu heulen…

Mag das Motiv von Merz verständlich gewesen sein, so zeigte er sich kläglich schwach in der Regie, vor allem aber hat er die europaweite Konsequenz nicht bedacht – oder doch? Das ist der selten erwähnte Punkt der Kontroverse: wie vereinbar sind diese Anträge mit dem Reglement der EU? Der verbliebenen politischen Mitte ist vorzuwerfen, sich hinter der Ablehnung der AfD jeder politischen Perspektive zu enthalten. Man hatte sich selbst dazu überredet, namenlos erfolgreich gewesen zu sein.

Nun hat sich das Berliner Parlament selbst ins Out begeben, nämlich die konstruktive Kraft für Europa abgegeben zu haben und deren Orientierung der Entscheidung entweder Donald Trump zu überlassen – oder Wladimir Putin. Der aus- oder anstehende Friedensvertrag mit der Ukraine wird über die nächsten Stationen Auskunft geben. Schritt um Schritt legt Europa seine mögliche Kompetenz ab. Zwei Staaten haben als einzige der 27 Mitglieder der EU die Zeichen der Zeit verstanden: Polen und Finnland.


Es wird keinen Superstaat geben….

Dennoch wird es Politik geben. Sie wird die Struktur des Nihilismus haben, der von der Mehrheit geteilt wird, durch hunderte Abgeordnete legitimiert: Enjoy Yourself. Alain Badiou beschreibt den EU-Menschen im demokratischen Wahrzeichen, der von der EU aber nichts wissen will:

Der demokratische Mensch lebt ausschließlich im Hier und Jetzt. Er achtet kein Gebot als das eines wechselhaften Verlangens. Heute veranstaltet er ein feuchtfröhliches Gelage, morgen schwört er ausschließlich auf Buddha, Fastenstrenge, Quellwasser und Nachhaltigkeit. Am Montag bringt er sich stundenlang in Form. Am Dienstag schläft er den ganzen Tag durch, dann raucht und schlemmt er ein bisschen. Am Mittwoch gibt er feierlich bekannt, dass er sich der Philosophie widmen wolle, zieht es dann aber doch vor, nichts zu tun. Am Donnerstag entflammt er mittags für Politik, speit Gift und Galle gegen die Ansichten seines Nachbarn und schießt nicht weniger scharf gegen den Konsumwahnsinn und die Gesellschaft des Spektakels. ….O wie hat er sich geschworen Geschäfte zu machen! Immobilien! Die Boni gehören praktisch schon alle ihm. Dumm nur, dass gerade Wochenende ist. Und Krise. Na, nächste Woche sieht man weiter…..

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Reinhold Knoll

Reinhold Knoll, geb. in Wien 1941. Gymnasium und Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. A.o. Hörer an der Akademie der Bildenden Künste. Promotion 1968 mit dem Thema „Früh- und Vorgeschichte der christlich-sozialen Partei bis 1907" (gedruckt). 1969 bis 1972 innenpolitischer Redakteur im ORF. 1973 am Institut der Soziologie an der Univ. Wien. Habilitation zur „Österreichischen Geschichte der Soziologie", gedruckt, mit Beiträgen von Helmut Kohlenberger 1988. A.o. Prof. für Soziologie ab 1989; Letzte Publikationen: The Revelation of Art-Religion, New York 2018; Letters to my grandchilden, New York 2021; und Beitrag zu Joseph von Sonnenfels, 2024.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Rainer Haselberger

    Ich begrüße die Idee der Dänen, Trump den Kauf Kaliforniens durch Dänemark anzubieten. Vielleicht kann es in einem Trump-Deal gegen Grönland getauscht werden.
    Damit kann in Europa wieder rechtens englisch gesprochen werden, da dann nicht mehr nur Malta englischsprachig sein wird!

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