Reinhold Knoll
Europa im Wach-Koma
Wer von der Ukraine Frieden mit Russland fordert,
betreibt Verrat an unseren demokratischen Werten.
Essay

Bei der Weltwoche, der renommierten Zeitung kann man beginnen: Es ist seit drei Jahren das besondere Anliegen des Blattes, in Europa möge wieder der Friede einkehren. Kann man den Verdacht, in der Schweiz rechne man bereits mit künftigem Anlagevermögen, völlig von der Hand weisen? Es ist dennoch ein ehrenhaftes Anliegen, den Frieden zu wünschen.

Die Ukraine gilt nicht nur in der Schweiz als Unruhestifterin, deren Präsident Selenskyj als stur, überfordert und uneinsichtig dargestellt wird. Hätte das Schweizer Blatt mehr Einfluss, wäre schon längst wieder Ruhe und Friede, sagen inzwischen mehr Europäer als vermutet.

Selten wird erwähnt, dass der Wortlaut der Friedenssehnsucht zugleich die russische Position bedient. Der Friede wurde zum Deckmantel handfester Interessen. Ursprünglich hieß es noch vor drei Jahren, es ist dem Kreml nicht mehr zuzumuten – so liest man allenthalben, auf Dauer die ukrainische Bedrohung zu negieren.

Die Aufstände in Berlin, Budapest, Prag und Warschau wurden schon vor Jahren als Angriffe auf die russische Föderation interpretiert. Also würden sich wahrscheinlich die Ukraine, Georgien, auch Kasachstan, Tschetschenien und Kirgisien irgendwann gegen das russische Kernland erheben. So lautete die Prophezeiung, die sich weit weniger um das Schicksal künftiger demokratischer Staaten kümmerte, sondern um den Verlust des politischen Wallfahrtsorts Russland trauerte.

Und oft war vom Bedauern zu lesen, dass es die alte Sowjetunion nicht mehr gibt. Die Ukraine machte nach wechselvoller Geschichte mit der antirussischen Haltung den Anfang, man begann – gegen die Verträge von Minsk und Paris – den Beitritt zur NATO zu planen, ebenso war der Wunsch nach Zugehörigkeit zur Europäischen Union nicht mehr zu überhören. 

Das waren in den Augen der Friedenskämpfer deutliche Zeichen dafür, dass Russland gleich nach 2000 unter erheblichen Druck geriet: Der Westen rückte immer mehr und bedrohlicher nach Osten.

Nun gibt es zahllose Spezialisten, die den Vertrag von Minsk, die Vorverträge von Budapest und Paris zu interpretieren versuchen. Nach Ansicht jener, die behaupten, Russland zu verstehen, war es die Absicht ukrainischer Politik, sich vom Kreml endgültig zu emanzipieren und somit Russland zu bedrängen. Da schien Russland fast schwächlich zu sein, obwohl sich das Land über sieben Zeitzonen erstreckt.

Also geben die Interpreten des Vertrags von Minsk durchaus zu, dass zwar Putin die Ukraine angriff, aber es war die ukrainische Bedrohung. Und jene des Westens konnte nur durch diesen Militärschlag beendet werden. So verstand und billigte man den Versuch Putins, das alte Russland neu erstehen zu lassen. Auch die Annexion der Krim 2014 schien die längst fällige und legitime Integration in den alten russischen Bestand zu sein und wurde als normaler Vorgang bewertet.

Das alles wäre harmloses Geplauder geblieben, hätte Putin seine Okkupationswünsche teils verschwiegen, teils als Versuch gestartet, ehemals russisch besiedelte Gebiete außerhalb Russlands – vom Baltikum bis Kasachstan mit einem Autonomiestatut zu schützen.

Mit dem heftigen Krieg, den die Ukraine mit äußerstem Einsatz zu führen vermag, wurden die östlichen Regionen der Ukraine vom russischen Militär besetzt. Immer öfter ist daher zu vernehmen, die Ukraine müsse die russische Überlegenheit endlich anerkennen, sie sei es sogar der eigenen Bevölkerung schuldig, umgehend Frieden zu schließen.

Der Friedenschor wurde in Europa immer stärker. Er überrascht auch insofern, als von den eher rechts orientierten Parteien von der Ukraine ein fast bedingungsloser Friedensschluss mit Russland verlangt wird. Außerdem hat der neue US-Präsident gleich zu Amtsantritt verkündet, in wenigen Tagen einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine stiften zu können.

Immer häufiger fällt bei den Friedensinitiativen auf, dass in Mitteleuropa ausgerechnet nationalistische Parteien, die sich in einen unverantwortlichen Populismus hinein gesteigert haben, gemeinsam mit linken Parteien trotz aller animosen Gegensätze zur gemeinsamen Linie fanden, einen sofortigen Friedensschluss von der Ukraine zu fordern, ohne mit einem einzigen Wort den logischen Partner eines solchen Vertrags zu erwähnen.

Man redete zwar in Vorwürfen ukrainischer Kriegstreiberei vom zwingenden Frieden, doch niemand sagte ein Sterbenswörtchen darüber, dass die Fortsetzung des Kriegs allein von Putin abhängt. Es ist ein merkwürdiges Phänomen des Verschweigens. Da mischten sich sogar Generäle ein, die sich selbst gegen ihr Berufssinteresse vehement gegen jedes Aufrüsten in den EU-Staaten aussprechen, auch behaupten, eine wahnwitzige Rüstungspolitik würde die Kriegsgefahr für ganz Europa dramatisch erhöhen. 

Die Szenarien, die da angefertigt werden, verwundern. Im Vergleich hätte man diese Warnungen vor der Kriegsgefahr durch Aufrüstung aus Militärkreisen ganz anders darstellen können: Wer Feuerlöscher kauft, steigert die Brandgefahr.

Dass übereinstimmende Interessen rekonstruiert werden können, die selbst die Geschichte der Sowjetunion ins Zwielicht bringen, kann jetzt mit guten Gründen als Verdachtsmoment genannt werden. In der österreichischen Geschichte war Oberst Redls Verrat der Angriffspläne gegen Russland zwar ein traumatisches Erlebnis, aber kein Staat würde heute an einen Angriff auf Russland denken.

Mit der Wesensgleichheit der beiden Diktaturen, die Stalin und Hitler im gleichen Licht erscheinen lassen, kann man Faschismus auch als wesentlichen Bestandteil sowjetischer Politik ansehen, vor allem deshalb, da solche ideologischen Schriften unter Stalin anstandslos gedruckt und verkauft werden konnten: Iwan Iljin schrieb 1937 Weg geistiger Erneuerung und 1931 Welt vor dem Abgrund. Bei beiden Büchern ist das Drehbuch von Putins Politik deutlich zu lesen: Groß-Russland.

Nun kann es sein, dass die Befürwortung der russischen Politik gegenüber Europa bei den EU-Europäern keineswegs aus Einsicht oder aus dem Denken in Alternativen gewonnen wurde, sondern schlicht als Verratsdispositiv zu bezeichnen ist. Waren es früher die berüchtigten Fünf-Schilling-Agenten, die im Dritten Mann so tun als würden sie die Weltpolitik exekutieren, so ist dieser Landesverrat ein ungeheuerlicher Verstoß gegen eine Gesellschaft, der man selbst angehört.

Unkommentiert bleibt ein Freundschaftsvertrag einer österreichischen Partei mit Putins Einheitspartei, unkommentiert bleiben die vielen Umbesetzungen in den Verwaltungsstäben in Energiekonzernen, über die man zwar rätseln darf, aber eine Linie erkennt man dann doch.

Es gibt keine Liste, die jene Personen anführt, die in russische Institutionen kooptiert wurden. Da will man offenbar  alle Vorteile einer Flurbereinigung der Demokratien durchsetzen. Das hört man in den Parlamentsreden im deutschen Bundestag heraus, aus dem wüsten Schimpfen über den österreichischen Regierungskompromiss in einem Privatsender.

Dass der Repräsentant dieses TV-Senders der Sohn eines Ordinarius für Neuere Geschichte in Salzburg ist, erhärtet den Verdacht, niemandem von den Wortführern einen besonderen Patriotismus unterstellen zu dürfen. So kostümiert sich dann ein General im Gewand Berta Suttners, dem es nicht um Frieden geht, sondern man kann annehmen, dass er die Minderung der Verteidigungskraft erzielen will.

Offenbar bleiben die Wahrnehmungen des Truppeninspektors der deutschen Bundeswehr ungehört, der im Interview erklärte, dass im baltischen Raum eine russische Armee von 150.000 Soldaten zusammengezogen wurde, dass regelmäßig Drohnen Kasernen in Deutschland überfliegen, dass die Kommunikation des Militärs regelmäßig gestört oder unterbrochen wird. So wird ein Bedrohungsszenario entworfen, das nichts auslässt.

In Europa sind die Parteien bekannt, die generell den Frieden von der Ukraine fordern, was eigentlich im Gesinnungszustand dieser Gruppierungen blanker Zynismus ist. In Wirklichkeit bedienen sie die Machtinteressen Putins. Wenn man sich erinnert, dass ein rumänisches Höchstgericht, den russischen Einfluss als eine Irritation im Wahlverhalten verurteilte – wie auch in Moldawien die gleiche Absicht der Destabilisierung stattfindet, ist die mobilisierte Stimmung, staatliche Waffenkäufe zu verhindern, die von Russland erwartete und finanzierte Haltung.

Dass diese merkwürdige Richtung sich nicht mehr mit den Lebensinteressen der europäischen Gesellschaften deckt, führt sowohl zur Destabilisierung des politischen Konsenses als auch zur realen Möglichkeit, die bisherigen politischen Strukturen zu verändern – ins Autoritäre.

War die sowjetische Politik für ihren Machtbereich und für Europa übersichtlich gewesen, lässt Putin die Europäer im Unklaren, ob sie im Grunde nicht doch als Teil des künftigen Groß-Russland anzusehen sind. Würde Putin das Libretto von Lortzings Oper Zar und Zimmermann kennen, könnte er sogar den Anspruch auf Amsterdam begründen. 

Absurd? Eine Übertreibung? Es hängt vermutlich vom Budget ab, das der russische Auslandsnachrichtendienst großzügig zu verteilen hat….

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Reinhold Knoll

Reinhold Knoll, geb. in Wien 1941. Gymnasium und Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. A.o. Hörer an der Akademie der Bildenden Künste. Promotion 1968 mit dem Thema „Früh- und Vorgeschichte der christlich-sozialen Partei bis 1907" (gedruckt). 1969 bis 1972 innenpolitischer Redakteur im ORF. 1973 am Institut der Soziologie an der Univ. Wien. Habilitation zur „Österreichischen Geschichte der Soziologie", gedruckt, mit Beiträgen von Helmut Kohlenberger 1988. A.o. Prof. für Soziologie ab 1989; Letzte Publikationen: The Revelation of Art-Religion, New York 2018; Letters to my grandchilden, New York 2021; und Beitrag zu Joseph von Sonnenfels, 2024.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Rainer Haselberger

    In der Logik der Populisten müsste es statt „Wer Feuerlöscher kauft, steigert die Brandgefahr.“ heissen:
    „Wer Feuerlöscher kauft, ist ein Brandstifter“ oder
    „Wer sich anschnallt, ist ein Amokfahrer“.

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