Reinhold Knoll
Die Wiener Wahl
Vom Ende des politischen Konsenses
Analyse
Die Jubeltöne sind nicht zu überhören: Der Bürgermeister hat seine Position gehalten. Die Verluste seiner Partei werden als minimal bezeichnet. Der Stimmengewinn der FPÖ ums Dreifache erregt die Gemüter wie das Märchen der Gebrüder Grimm, in dem einer ausgezogen war, um das Fürchten zu erlernen.
Es ist Wasser auf die Mühlen des rechtsrechten Propagandasenders, denn der obligate Schreihals liest dem Vertreter politischer Vernunft die Leviten – täglich stundenlang. Und der ehemalige SP-Clubobmann Josef Cap, der diesen makabren Fortschritt der telegenen Meinungsfreiheit bezeugt, nickt stumm dem tour d´horizon Westenthalers zu.
Der große Verlierer der Wiener Wahl ist die Volkspartei. Sie rangiert jetzt in Wien zwischen Absterben und Amen. Bei ihr sind so viele Fehler und Mängel vereint, was schon als politische Kunst bezeichnet werden kann.
In den Zeiten von Wolfgang Schüssel und Sebastian Kurz profitierte die Partei von Positionen, die in den meisten Punkten jenem Wertkonservativismus nicht entsprachen, der in Festreden nur mehr für Stehsätze sorgte. Regelmäßig werden sie vor Wahlen wie Fahnen einer Prozession vor den Gutgläubigen enthüllt, doch – wie es im Volksmund heißt: wer´s glaubt, wird selig.
Vor Wahlen sollen die Vorfeldorganisationen das repräsentieren, woran in der Parteizentrale schon niemand mehr glaubt. Jetzt wurde der Partei die Rechnung präsentiert, für die sie nicht einmal gerade stehen kann.
Solche Stunden der Wahrheit gingen an den Grünen stets glimpflich vorüber. Und die NEOS gelten ab jetzt als bessere Volkspartei. Nie haben sie den Mund so voll genommen wie der Wirtschaftsflügel der VP. Die kümmern sich nämlich gar nicht um ihre Partei, denn beim Bürgermeister sind sie allemal besser aufgehoben. Man beißt eben nicht die Hand, die einen füttert. So blockiert der eigene Parteiflügel, der den niedrigsten Gewerben der Gastronomie angehört, jedes Anliegen der Bewohner um Sicherheit, Nachtruhe und Kulturerhalt.
Nun ist diese Wahl zugleich ein eindrucksvolles Sittenbild. Die oft zitierte Weltoffenheit Wiens ist dort nicht anzutreffen, wo in anderen Städten Europas sesshaft gewordene Zuwanderer das Stimmrecht bei Kommunalwahlen haben. Soweit reicht die internationale Solidarität nicht, 70.000 Bewohnern (!) ein Stimmrecht für die Gemeinderatswahl zuzuerkennen. Die politische Repräsentation der Stadt zieht sofort den Kopf ein, sollte sie diese Liberalität zur Sprache bringen. Da ist die berüchtigte Umvolkung sofort das bevorzugte Gesprächsthema jeder talk show und übertönt sogar das alte Klagelied über die Überfremdung in den Pflichtschulen.
Hilflos sieht man dem pädagogischen Scheintod der Wiener Schule zu. Erst unlängst ließ ein Plan aufhorchen, Schulklassen ungefragt mit Kindern ohne Migrationshintergrund aufzustocken, um den prozentualen Anteil der Muttersprachigen halbwegs in der Waage zu halten. Wenn das die Regel wird, werden die Privatschulen gut beraten sein, wenn sie ihre Häuser vergrößern, aufstocken oder Nachbarobjekte ankaufen. Sie werden das nachzuholen haben, was die Wiener Privatspitäler schon seit Jahren tun.
Diese Schwachpunkte verärgern die Wiener weit mehr als stockender Verkehr, Radwege auf Hauptstraßen, oder gestiegene Energiekosten. Die sozialdemokratische Partei ist mit blauem Auge knapp davongekommen, denn die gestiegenen Mieten in Gemeindebauten waren der Grund, dass in diesen ehemaligen Hochburgen des Roten Wien 30% FP-Wähler hausen, die sich eben dafür rächten.
So zeigt die Wiener Wahl in erster Linie ein nahes Ende der Konsensdemokratie an. Diese wird nicht nur in ganz Europa durch Rechtsparteien demoliert, sondern die Modernisierungsfortschritte in der Gesellschaft haben generell jeden politischen Konsens geschwächt, weil auch die sozialen Bindungen und Solidaritäten geschwächt wurden.
Die moderne Gesellschaft versteht sich als grenzenlose Individualisierung. Der Blick in einen öffentlichen Autobus lehrt sofort, dass alle in ihre Telefone starren. Früher hatte man sich wenigstens gegenseitig angesehen und, so man dabei ertappt wurde, schnell weggesehen.
Heute: Die Bildmedien sind die primäre Erfahrungsquelle der Sozialität, geeignet für Analphabeten, Sprachlose und sozial Deklassierte. Insgesamt erleben die Modernisierungsverlierer ihren sozialen Abstieg und ihre Deprivation deutlicher als früher. Statt Konsens herrschen nun inszenierter Neid, Hass und Missgunst. Das besagt schon der Name des Listenführers der einzigen siegreichen Partei in Wien: Nepp.
Mit dem Ende der Konsensdemokratie sehen sich alle ihre Teilnehmer und Repräsentanten zu kurz gekommen: die Hausbesitzer ebenso wie die Bewohner samt überhöhter Mieten, Patienten, die auf ein Spitalsbett warten, wie Zuwanderer, die nicht arbeiten dürfen, Pensionisten, die die orientalische Musik aus den Parterrefenstern stört, wie Arbeitslose, denen vorgeworfen wird, mit der Unterstützung mehr zu verdienen als Beschäftigte.
Gastwirte klagen übers Personal und Lehrer über Kinder, die noch nie so dumm und unerzogen waren. Beamte klagen über ihre Überbeanspruchung und alle jene, die ein Amt aufsuchen müssen, beschweren sich über die amtlichen Leerläufe.
Es muss also in den letzten 20 Jahren ein unerhörter Abbau stattgefunden haben. Der Verlust des politischen Konsenses hat viele Ursachen, nicht zuletzt ist er auch das Resultat eines Rumpelstilzchen-Journalismus, in dem jedes Thema personalisiert wird oder das ganze System für Unsinn oder Korruption verantwortlich ist. Nichts geht mehr, ist das allgemeine Urteil.
Täglich liest man es und täglich scheint es bestätigt zu werden. Allerdings im privaten Propagandafernsehen wird täglich verkündet, mit wem es gehen könnte: Mit der allzeit siegreichen Partei und Putin!
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