Reinhold Knoll
Die Medien, nicht die Politik erklären,
was eine Niederlage ist.
Das deutsche Verständnis von Demokratie
Notizen

Als Friedrich Merz beim Wahlgang im Deutschen Bundestag nicht gewählt wurde, soll alles in eine Schockstarre verfallen sein. Dass man in Eile, Hektik und Verunsicherung nach einem Ausweg suchte, war den Parteien der demokratischen Mitte deutlich ins Gesicht geschrieben. Und es war immerhin ein Verdienst demokratischer Überzeugung, mit Ausnahme zur Geschäftsordnung, schnell einen zweiten Wahlgang zu ermöglichen. Niemand wollte diese Unsicherheit dem Staat und dem Volk antun.

Nun war die gemeldete und verbreitete Beurteilung dieser überraschenden Verzögerung, dass gleich zu Beginn die große Koalition Schwäche zeige, keine mehrheitliche Zustimmung erhalte und wahrscheinlich schon jetzt die Erwartungen nicht zu erfüllen vermöge.

Auf der anderen Seite ist es ein wesentliches Merkmal des demokratischen Selbstverständnisses, Zustimmung oder Ablehnung in individueller Eigenverantwortung abzuwägen. Das wurde im 19. Jahrhundert als imperatives Mandat bezeichnet. Und es gehört zur Ehre dieser politischen Ordnung, dass der Stimmberechtigte davon freien Gebrauch machen kann. 

In seinem Buch Zivilcourage zählte John F. Kennedy viele Fälle dieser ungewöhnlichen politischen Entscheidungen auf, die später zur Leitlinie für die Ausübung des unabhängigen Mandats des Abgeordneten wurden. Berühmt wurde Winston Churchill, der im Dissens gegen seine Partei offen auf der Seite der Labour Party abstimmte.

Im deutschen Fall meinte man hingegen, mit den Gegenstimmen aus den eigenen Reihen der Koalition sei die große Koalition schon jetzt eine Totgeburt.

Nun muss man aber unterscheiden. Es waren Medien, die diese Beurteilung dem neuen Bundeskanzler gleich ins Stammbuch schrieben. Während das Stimmverhalten zeigte, dass es noch eigenwillige und vielleicht auch eigenverantwortliche Abgeordnete gibt, die wie in Kennedys Zivilcourage aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen wollen, also den Sinn der Demokratie verlebendigen, erklärten die Medien den Vorgang zur Niederlage, zum Desaster für den Noch-Nicht-Bundeskanzler, zur Dämmerung der Koalitionsregierung.

Damit haben Medien die Hoheit der Beurteilung angetreten und wie ein imaginärer Kaiser im Neoabsolutismus bewerten sie nach eigenem Ermessen das parlamentarische Geschehen. Was dort als positiv oder negativ, demokratisch oder peinlich zu bezeichnen ist, wird nicht im oder vom Parlament ermittelt, in keinem Ausschuss und in keiner Präsidialsitzung, sondern in den Medien. 

So dreht sich die Intention der Demokratie um die eigene Achse….- aber wie lange, wenn sie sich nicht selbst verlieren will? Stecken also in Wahrheit die Medien hinter dem Aufstieg von Populismus und reaktionären Kräften?

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Reinhold Knoll

Reinhold Knoll, geb. in Wien 1941. Gymnasium und Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. A.o. Hörer an der Akademie der Bildenden Künste. Promotion 1968 mit dem Thema „Früh- und Vorgeschichte der christlich-sozialen Partei bis 1907" (gedruckt). 1969 bis 1972 innenpolitischer Redakteur im ORF. 1973 am Institut der Soziologie an der Univ. Wien. Habilitation zur „Österreichischen Geschichte der Soziologie", gedruckt, mit Beiträgen von Helmut Kohlenberger 1988. A.o. Prof. für Soziologie ab 1989; Letzte Publikationen: The Revelation of Art-Religion, New York 2018; Letters to my grandchilden, New York 2021; und Beitrag zu Joseph von Sonnenfels, 2024.

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