Reinhold Knoll
Der Antisemit Goethe
Zu W. Daniel Wilsons „Goethe und die Juden, 
Faszination und  Feindschaft“

Seit zweihundert Jahren ist im gesamten deutschsprachigen Raum Goethe der Fixpunkt des Deutsch-Unterrichts in allen Schulen, der Mittelpunkt des Literaturunterrichts. In jeder größeren Stadt in Deutschland oder Österreich gibt es ein Goethe-Denkmal, eine Goethe-Straße oder einen Goethe-Platz.

Nun verliert der Autor von Werthers Leiden und Wahlverwandtschaften, von Iphigenie, des Götz von Berlichingen, von Faust und der Dichter von Erlkönig und Zauberlehrling seinen Nimbus. Zehntausende Leser sind durch Goethe zu den Schätzen deutscher Literatur gekommen, zehntausende vermeinten im Faust den Sinn der Philosophie verstanden zu haben. Noch immer dominiert selbst in bescheidenen Haushalten eine Gesamtausgabe von Goethes Werken die Bücherwand und erhebt den Eigentümer zum Bildungsbürger – seit jeher.

Seit 1999 gibt es nun dieses Gemurmel, das die Publikationen von Daniel Wilson hervorgerufen hatten. Damals waren es noch die Skizzen eines Germanisten gewesen, noch galten sie als Vermutungen, in denen zwar Goethe und Weimar, die Goethe-Zeit und die Zäsur der Französischen Revolution analysiert wurden, aber die jüngste Publikation zu Goethes Haltung gegenüber den Juden erlaubt niemanden mehr zur Tagesordnung allgemeiner Literaturgeschichte zurückzukehren. Schon die ersten Seiten machen den Leser betroffen.

Man fragt sich, worüber man mehr entsetzt sein soll? Hatten bisher die tüchtigen Biographen diese finstere Schattenseite Goethes unterschlagen? Hatte man diese Ungeheuerlichkeiten nicht zur Kenntnis genommen, sollte man sie gelesen haben? Waren die despektierlichen Sätze über Juden bei Goethe nicht aufgefallen, weil sie zur durchgängig vorhandenen Mentalität gehörten? Man empfindet die eigene Schuld, weil man ganze Absätze in Goethes Schriften offensichtlich überlesen hat, etwa im Roman Wilhelm Meister, und sie auch tunlichst verdrängte, denn an Denkmälern rüttelt man nicht. Wilson hat es getan – und er hat recht getan.

Die ganze Geschichte beginnt mit der Wiedergabe von Goethes Schilderung der Judengasse in Frankfurt. Mit dem Durchstreifen der Judengasse im Frankfurter Ghetto wurden die Wahrnehmungen des Halbwüchsigen zur Grundlage seiner späteren Beurteilungen von Juden. Die turbulenten Interaktionen, das Gewimmel, die Wortfetzen, von denen man nur einen Bruchteil verstand, die drückende Armut, das Anpreisen der eher erbärmlich-armseligen Waren stießen ihn ab.

Offenbar hatte er daheim zusätzliche Bestätigungen in der Bibliothek seines Vaters gefunden. Folgen wir hier den kriminalistischen Erhebungen Wilsons, war Goethes Reaktion Ekel und Abscheu. Also diese Menschen in der Judengasse sollen zur gleichen Geschichte wie Lessings Nathan der Weise gehören? Diese Angehörigen geistiger deutscher Elite, die später bei Goethe die Aufwartung machten, sollen aus einem derartigen Ghetto gekommen sein? Wie passt das zusammen?

Wilson geht behutsam vor, um Schicht für Schicht diese Judenfeindlichkeit offen zu legen. Da ist ja nicht nur das Erlebnis aus der Kindheit, sondern in späteren Jahren tritt die Toleranz-Politik Napoleons gegenüber den Juden hinzu, um das künftige Spannungsfeld im Biedermeier zu veranschaulichen.

Warum der Vater Johann Wolfgang in den Jiddisch-Unterricht schickte, warum der Sohn eine gediegene Ausbildung in Hebräisch erhielt, wie Herbert Schöffler in Protestantismus und europäische Literatur 1922 beschrieb, warum er das Englische Bibelwerk auch daheim studieren durfte, erklärt noch nicht die darin vorhandene Diskrepanz zwischen Akzeptanz und Judenfeindlichkeit.

Wie so oft entschied die Lebenspraxis über alle weiteren Beurteilungen. Goethe, ein Vielfach-Talent, hatte seine Beziehung zu den Naturwissenschaften in der Version von Romantik und frühem Historismus übernommen und hatte somit begonnen, die verschiedenen Menschenrassen nach den Kriterien von Hochkultur, Zivilisation und Fortschritt zu ordnen. Goethe war aber auch der festen Überzeugung, dass Erziehung und Bildung helfen werden, das soziokulturelle Korsett abzulegen. Das gehörte zu seinem Glaubensbekenntnis in der Aufklärung.

Wie Eric Voegelin 1933 in den Rassenideen in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus rekonstruiert hat, waren die Menschen um 1750 nach der gleichen Methode und Systematik unterschieden worden wie Tiere und Pflanzen. Es war die nunmehr gemeinsame wissenschaftliche Basis, die auch in der Methode einige Geltung für Philosophie, Ethnologie und Anthropologie besaß.

Diesen Kriterien der Aufklärung widersprach das Erscheinungsbild der Juden in den Ghettos. Trotz der nur oberflächlich vorhandenen Kenntnisse der Bibel hatte man sich in den gebildeten Kreisen gewundert, dass aus Galiläa nach dem Auszug aus Ägypten zwar eine Kultur entstanden war, der man selbst angehörte: das Christentum. Doch die Juden waren hingegen auf Dauer ihrer Armut und Rechtlosigkeit gläubig und rückständig ergeben. Diese armseligen Menschen, die in Mittel- und Osteuropa halb verängstigt und hungernd, halb die nächste Vertreibung oder gar ein Pogrom zu befürchten hatten, bewahrten über Jahrhunderte die Eigenständigkeit ihres Volks, ihrer Sprache und ihres Glaubens, was für die Aufklärer in Deutschland nicht nur ein Rätsel blieb, sondern auch zur neuen Art der Ablehnung führte. Die Juden waren zu den deutlich sichtbaren Gegnern jeder Modernisierung geworden. Diese Juden gehörten nicht in den Zeitrahmen der Aufklärung.

Als Student verfasste Goethe die Judenpredigt um 1765, in der er Textmontagen aus antisemitischen Schriften übertrug. Es war als Spaß gedacht. Der Inhalt ist eine groteske Schilderung der Ankunft des Messias. Und dabei werden in der Persiflage sowohl der jüdische wie auch der christliche Glaubensinhalt zur Groteske. Es ist ein zotiges Zeugnis der Aufklärung, in der Religion zum historischen Relikt erklärt wird – vis a vis der Dogmen von Auferstehung und Erlösung.

Wilson ordnet nun die Judenfeindschaft Goethes den jeweiligen beruflichen Aufgaben zu. Goethe begann in der Praxis seines Onkels als Anwalt. Hierauf war er als Geheimrat im Dienst des Großherzogs von Weimar, um dann endlich freischaffender Schriftsteller und Dichter zu sein. In der Dokumentation ist in Bezug auf Goethes Berufsleben zwar eine differenziertere Haltung gegenüber den Juden zu erkennen, soweit war er doch vom Emanzipationsprozess beeindruckt worden, doch eine wirkliche Kehrtwendung gab es nicht.

Dabei wird der aufmerksame Leser immer wieder darauf aufmerksam gemacht, also in der Abfassung von Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit ab 1811, dass die Duldsamkeit von Juden eine Bedrohung bürgerlicher Ordnung darstellt. Mehrfach hatte er sich gegen Gleichberechtigung oder gar Gleichstellung ausgesprochen, nannte aber immer öfter eine Konversion als Bedingung der Gleichstellung und Integration.

Freilich war er gerade in Dichtung und Wahrheit vorsichtig in den Formulierungen geblieben, denn er war überzeugt, dass sich die Nachwelt auf seine Autobiographie stürzen würde. An ihr schrieb er bis an sein Lebensende.

Als Geheimrat war es ihm über neun Jahre nahezu unmöglich, ein Schriftsteller zu bleiben. Über seinen Schreibtisch gingen etwa 14700 Akten, und sofern sie Angelegenheiten von Juden betrafen, versuchte er die Folgen weitgehender Liberalisierungen zu behindern. Darin sah er seine Aufgabe, die bürgerliche Ordnung zu schützen. Er war überzeugt, diese Rolle innerhalb seines Verständnisses von Aufklärung auszuüben.

In dieser Funktion hat er an über 500 Sitzungen des Geheimen Rates teilgenommen. Wie er noch vor seiner Funktion eines Geheimrates zu erkennen gab, vorsichtiger zu werden, so zeigte er diese Vorsicht erstmals anlässlich der erfolgreichen Aufführung des Bühnenstücks Nathan der Weise 1789 oder gegenüber der Publikation Über die bürgerliche Verbesserung der Juden 1791 vom preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohm. Da wurde ein politisches Programm der Gleichstellung entworfen, zu dem sich Goethe nicht äußerte.

Als Geheimrat hatte er das Ressort Verkehr und Straßenbau zu leiten. Es war eine gewaltige Staatseinnahme, denn Juden mussten einen entwürdigenden Leibzoll entrichten, der gemäß der Zahl der Mitreisenden und Güter immer erhöht wurde. Um diesem Leibzoll zu entgehen, reiste man auf Umwegen durch Deutschland.

Ein Beamter übertrieb seine Pflichterfüllung und perlustrierte den Reisewagen eines jüdischen Kaufmanns mehrmals. Die Beschwerde gelangte bis zum Großherzog und natürlich auch zum Geheimrat Goethe. In der Analyse Wilsons heißt es, ein verwirrendes Knäuel an Haltungen gegenüber Juden vorgefunden zu haben. Halb verachtete er die Handlungsjuden, halb faszinierten ihn die Gebräuche und Religion.

Die Revision der judenfeindlichen Haltung trat ein, als er nach seinem Besuch in Karlsbad mit gebildeten, feinsinnigen Jüdinnen aus Berlin und Wien zusammentraf, die ihn rückhaltlos bewunderten. Es waren die Salondamen, speziell Rahel Varnhangen van Ense, geborene Levin, Sarah und Marianne Meyer, der Wiener Kreis um Fanny Arnstein-Eskeles, Brendel Mendelssohn, nach der Heirat mit Friedrich Schlegel: Dorothea und Henriette Herz, die Goethe so für sich einnahmen, dass man fast den Eindruck gewinnen könnte, er habe den Vorbehalten, dem gemeinen Spott über Juden abgeschworen.

Wenn man nun glaubt, dass Goethe wenigstens in seinen letzten zehn Lebensjahren seine Vorurteile revidierte, so zeigt Daniel Wilson an Goethes Beispiel die übliche Verhaltensweise, wie sie bis ins 20. Jahrhundert zu beobachten ist. Im Bekanntenkreis sind Juden zwar akzeptiert und auch integriert, aber in der Pauschalierung bleiben sie seit den Tagen der Ghettos stigmatisiert, bleibt weiterhin die gesellschaftliche Distanz aufrecht.

Vielleicht sollte man für ein umfassendes Bild von Goethe auch die frühe Publikation von Wilson zur Hand nehmen: Geheimräte gegen Geheimbünde. In diesem entpuppt sich Goethe beinahe als ein Tyrann, der sehr geschickt den Großherzog bewegen konnte, nicht nur den Literaturkreis Sturm und Drang samt Reinhold Lenz aus Weimar zu verbannen, Fichte vom Lehrstuhl zu verjagen und Hölderlin hartnäckig zu verfolgen, sondern auch viele Gesichter zeigen konnte.

Er konnte liebenswürdig sein, vor allem wenn er den jungen Felix Mendelssohn nach dem Klavier-Spiel küsste, so charmant wie gegenüber Marianne Meyer und dann wieder hart und schroff, wenn er den Kindern die Rückgabe der teuren Taschenuhr Schillers verweigerte und obendrein leugnete, sie für einen eventuellen Ankauf erhalten zu haben.

Diese Sotisen werden die Bedeutung Goethes nicht mindern. Oft können große Menschen kleinlich und gemein sein. Das Buch von Daniel Wilson belehrt weit mehr, wie der Antisemitismus in uns selbst eindringt, sich fortpflanzt und sehr selten eine rechtzeitige Korrektur erfährt. Goethe ist das Beispiel, wie sich Judenfeindschaft erhalten konnte – über die Aufklärung hinweg, wider besseres Wissen(?), hinweg über die Selbstverleugnung der Konvertiten und erniedrigender Anpassung.

Es war seit dem 18. Jahrhundert der große Irrtum, die Säkularisierung des Bewusstseins würde endlich die alten konfessionellen Animositäten beseitigen, würde den vorurteilslosen Menschen gebären und die Vernunft wird obsiegen. Diese alten Bücher, Luther bezeichnete die alte Bibel als Märchenbuch, sollten zur Vor- und Frühgeschichte der Kultur hinzugefügt werden. Diese Erlaubnis war wie eine Begnadigung ausgesprochen worden. 

Rousseau hat weit härtere Worte gefunden. Freilich: eine säkulare Hochkultur wurde gegründet, deren Folge die größten revolutionären Durchbrüche in der Geschichte der Menschheit waren. Der Hauptaspekt war die Bildung und Institutionalisierung der Ergebnisse, die aus dem Bruch zwischen der transzendenten und der weltlichen Ordnung entstanden waren. Deren Beschreibung war die Meisterleistung der Philosophie bei Kant. Daraus bildeten sich im 19. Jahrhundert die hegemonialen Prämissen in der Kunst, Literatur, in der Ökonomie und in den politischen Transformationen.

Das wurde zum Sammelbegriff Europäische Kultur transformiert, ein Anpassungsprozess, der bisweilen auch zur Beurteilungsinstanz für alle anderen Menschen und Kulturen wurde. Auf diesem Sockel war einmal das große Denkmal für Goethe errichtet worden.

W. Daniel Wilson: „Goethe und die Juden, Faszination und Feindschaft“ Beck-Verlag München 2024. 30,80 Euro.

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Reinhold Knoll

Reinhold Knoll, geb. in Wien 1941. Gymnasium und Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. A.o. Hörer an der Akademie der Bildenden Künste. Promotion 1968 mit dem Thema „Früh- und Vorgeschichte der christlich-sozialen Partei bis 1907" (gedruckt). 1969 bis 1972 innenpolitischer Redakteur im ORF. 1973 am Institut der Soziologie an der Univ. Wien. Habilitation zur „Österreichischen Geschichte der Soziologie", gedruckt, mit Beiträgen von Helmut Kohlenberger 1988. A.o. Prof. für Soziologie ab 1989; Letzte Publikationen: The Revelation of Art-Religion, New York 2018; Letters to my grandchilden, New York 2021; und Beitrag zu Joseph von Sonnenfels, 2024.

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