Reinhard Kocznar
Mein lebenslängliches Lesen
Notizen
Ich lese, seit ich lesen kann, nicht weniger als zwei Stunden am Tag, eher mehr. Da ich auf das Fernsehen problemlos verzichte, habe ich auch genug Zeit dafür.
Fündig wurde ich zum ersten Mal in der Bibliothek im Kinderhort der Kapuziner. Die in Frage kommenden Titel waren zahlreich, und ich hatte sie bald durch. Das waren Abenteuergeschichten von Südseepiraten, Detektivgeschichten aller Art, natürlich Karl May, und über allem standen die Abenteuer des Meisterdetektivs Kalle Blomquist.
Da sehe ich heute nur mehr synthetisches Zeug. Ich bezweifle, dass ich heute noch einmal über ein paar Bücher hinauskommen würde. Die Phantasie wird nicht mehr angeregt, eher befriedigt, stattdessen der Blick auf die Zusatzartikel gelenkt, die gekauft werden sollen.
Es ist noch alles, wie es war, mein guter, alter Balthasar, sang einst Reinhard Mey. Er hatte unrecht. Es gibt keine Abenteuer mehr, sie sind verboten. Meist aus Gründen der Sicherheit, oder wegen der Lärmbelästigung.
Wenn heute jemand etwas beiträgt, dann sind es seine Vorstellungen von Verboten, und wenn Jugendliche dann ihre überschüssigen Energien austoben, folgt ein weiteres Verbot.
Wir konnten noch die langen Gänge von Luftschutzkellern im Licht unserer Fackeln absuchen, oder unsere Fahrräder auf das Dach eines achtstöckigen Neubaus tragen, um dort herumzufahren, oder andere aufregende Dinge mehr. Es war mehr als ein Harry Potter oder wie das heute gerade heißt.
Das Lesen hat mich dabei immer begleitet. Es hat mir die Welt erklärt, Lücken gefüllt und neue Dimensionen erschlossen.
Mit beschaulicher Lektüre konnte ich nie viel anfangen. Paulo Coelho ist mir passiert, das Original Exupéry half darüber hinweg. Mit der Zeit kam eine schöne Bibliothek zusammen, an die tausend Stück werden es wohl sein. Ich könnte daher auch kein Lieblingsbuch nennen, dafür bietet die Literatur zu viel. Konstanten sind aber Hemingway, Churchill und Camus.
Ich habe viele Bücher mehrmals gelesen. Es ist einfach interessant, anzusehen, wie man ein Thema früher aufgenommen hat und wie man es später sieht.
Allerdings, Lesen kann auch gefährlich sein. Eine Warnung zu hinterlassen ist zeitgemäß und wichtig. So hat mir Bertrand Russels ABC der Relativitätstheorie eine Harnleiterentzündung beschert. Ich hatte das Buch an einem Herbsttag gekauft und war an der Karwendelbahn unterwegs, um Lokomotiven zu fotografieren. Irgendwo habe ich mich auf einen Stein gesetzt und es ausgelesen. Es war relativ kalt an dem Tag.
Das ABC der Relativitätstheorie konnte ich in der Wagnerschen Buchhandlung aus dem Regal nehmen, Vernunft und Gewalt von Cooper und Laing oder den Tractatus von Wittgenstein. In einer Buchhandlung heute?
Heute sind gewisse Bereiche fast nur noch in der Hand von Frauen, etwa das Lesen. Mit der aktuellen Betulichkeit und Betroffenheitsliteratur können männliche Jugendliche aber nichts anfangen. Sie gehen für das Lesen verloren, umgekehrt verlieren sie dabei nichts.
1. PS: Noch ein paar zusätzliche Überlegungen.
Für mich ist Lesen Informationsgewinn. Deshalb lese ich auch Betriebsanleitungen, so banal das jemandem vorkommen mag. Ich will Information und den Gegenstand meines Interesses verstehen. Dazu gibt es den (nicht von mir stammenden) Spruch: Die Energie des Verstehens.
Ich habe bei meinen Schießkursen immer gesagt: Ich mag keine Leute, die Tricks suchen, nur solche, die es verstehen wollen. Das sage ich meinen Schülern auch immer, warf ein Fluglehrer begeistert ein. Er mag auch keine Leute, die nur die Abkürzung suchen. Die sich weigern, den Weg des Erkenntnisgewinns zu gehen. Diesen Leuten gehe ich längst konsequent aus dem Weg und höre nicht mehr hin.
Auf Fiktion mag ich dabei nicht verzichten, sei es jemand wie Camus, Der Fall beispielsweise ist so köstlich wie zeitlos, Hemingway, Graham Greene oder auch Edgar Allan Poe. Die Liste nimmt kein Ende.
Worauf ich verzichten kann sind die Erörterungen der Irrelevanz, etwa die Befindlichkeit der Frau A, der nächste Zu-Kurz-Gekommene B, also praktisch die zeitgenössische Betroffenheits-Literatur. Der einzige Leuchtturm dieser Literatur ist auch historisch die Geschichte der Justine von Marquis de Sade. Eine Buchhändlerin hat mir als Ergänzung dazu einmal ein zeitgenössisches Buch mit (allerdings lustvollen) Illustrationen verkauft.
Wen Fiktion nicht interessiert, der muss sich nicht entschuldigen. Ich mag Vanilleeis gern und Erdbeereis nicht, das ist nichts anderes. Wozu soll das begründet werden? Ich könnte mir aber auch überlegen, ob ich unbewusste Ängste und Vorbehalte gegen Erdbeereis habe und damit die Spaltung der Gesellschaft fördere. Freud und sein Rationalisieren liegt nebenan, aber bekanntlich ohne Leid kein Freud.
Was die Länge der Texte in der Fiktion betrifft, das ist einfach Sache des Talents und des aus dem Talent entwickelten Könnens des Autors. Eine Geschichte muss sich entwickeln, wer das nicht kann, wird eben langatmig und muss eventuell den Deus ex machina bemühen. Letzterer ist dann die Bankrotterklärung.
Nicht-Fiktion ist in meinen Augen nur Information. Diese aufzuarbeiten und zu präsentieren muss man auf jeden Fall beherrschen. Die Frage der Relevanz steht auch hier an erster Stelle. Grässliche Beispiele sind die Texte von Soziologen und Politikwissenschaftlern. Gelegentlich passiert mir im historischen Bereich ein uninspiriertes Professorenbuch, das dann, Amazon sei Dank, prompt rückabgewickelt wird. Wer kein literarisches Talent hat, bringt keinen lesbaren Text zustande.
Ärger wegen schwacher Texte verstehe ich nicht. Niemand ist gezwungen, sich damit zu befassen. Ich nehme sie nicht einmal wahr.
2. PS: Zu den erwähnten Personen Hemingway und Greene
In dem Buch Die grünen Hügel Afrikas stellt sich Hemingway die Frage, ob ein Bericht mit dem Genre Roman mithalten kann. Dasselbe trifft bei Greene zu mit dem Buch Mein Freund, der General.
In beiden Fällen ist das Ergebnis ernüchternd, die erwähnten Bücher hätte fast jeder schreiben können. Sie können mit der Kraft der wirklichen Romane dieser Schriftsteller nicht mithalten, der Fähigkeit also, die den Autoren das Schicksal in seinem unermesslichen Ratschluss zuerkannt hat und die anderen unerreichbar bleibt, mögen sie auch noch so viele Schreibwerkstätten frequentieren. Die Fähigkeit Dichter zu sein.
Dokumentation ist eben nur Dokumentation, ihr fehlt das Schöpferische. Dasselbe meint Vilém Flusser, wenn er in seinem Essay Für eine Philosophie der Fotografie die Dokumentaristen mit den Knipsern auf eine Stufe stellt. Ein gutes Bild ist absolut und dient weder als Urlaubs-Beweisfoto noch als politisches Statement.
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