Regina Hilber
Der Liebes-Stornierer vom Mont di Crôs
Ein Reisebericht
1. Teil

 Vorbemerkung: Die Autorin legt Wert darauf, die in der Programmvorschau fälschlich getätigte Aussage, wonach der Geliebte die Ich-Erzählerin verlassen habe, in dem Sinne zu korrigieren, als vielmehr ein jahrelanger Bergkamerad sie plötzlich in gefährlichem Terrain, ohne je ihr Geliebter gewesen zu sein, mit einem Liebesgeständnis konfrontiert. Pardon! A.S.

Regina Hilber besteigt die ehemalige Gebirgsfrontlinie des Ersten Weltkrieges am Karnischen Hauptkamm. Mit im Gepäck: Inger Christensens Gedichtband „Das Schmetterlingstal. Ein Requiem“.

Der Auftrag:

Ein Bild, das die Rezensentin mit dem zu beschreibenden Lyrikband zeigt. Hier, am steilen, zerklüfteten, spitz zulaufenden Gipfelgrat des Karnischen Hauptkamms, direkt am 100 Kilometer langen Grenzverlauf zwischen Österreich (Kärnten bzw. Osttirol) auf der einen, und Italien (Friuli-Venezia Giulia bzw. Veneto) auf der anderen Seite, unmöglich. Gefährlich.

Und dennoch: Lyrik zum Trost. Inger Christensens sommerliche Verse als Requiem sicher im Rucksack verstaut (diesen zu öffnen und aus dem schmalen Bändchen zu lesen ein bedrohliches Szenario im unwegsamen Gelände), bete ich einzelne Verse daraus mantraartig bei jedem zu bewältigenden Höhenmeter:

VIII
[…]
die wir wie Ikonen die Toten küssen,
mit dem Geschmack nach dem Kuß des Todes, der sie wegriß.
Wer ist es, der diese Begegnung verzaubert?

Auf der Nordseite (vom Kärntner Lesachtal) die steilabfallende, felsige Karnische Bergkette erklimmend, gnadenloser Kriegsschauplatz von 1915 – 1918, fällt ein Bekenntnis des mitbergsteigenden Kameraden bei einer Rast wie ein Fallbeil auf mich herab: Ich liebe dich. Schon lange…, gesteht mein Bergfreund. Schon immer heißt: seit 25 Jahren. Das Liebesbekenntnis fühlt sich für mich eher wie eine Kriegserklärung an. Schmerz. Kriegshistorischer Boden, männerlose Bergbauerndörfer zu jener Zeit, befinden wir uns Punkt für Punkt genau auf der berüchtigten Gebirgsfrontlinie, begehen, ersteigen die letzten noch erhaltenen Kriegsstellungen rechts und links vom Plöckenpass (Mont di Crôs) mit seinen Befestigungsanlagen, Kavernen und Felshöhlen samt die in den Fels gehauenen Ausnehmungen für die Geschütze.

Das Liebesbekenntnis als Kriegserklärung. Ein Pflaster der Liebe als Schlachtfeld, ein strategisches Manöver des Bergkameraden? Die Soldaten auf beiden Seiten im Ersten Weltkrieg mehr durch Lawinen und Steinschlag weggerissen, als von tödlichen Schüssen getroffen. Erfroren, verhungert. Einen Gebirgs-Stellungskrieg wie diesen sollte es nachher in Europa nie wieder geben.

Befestigungsanlage unterhalb des Kleinen Pal am Plöckenpass © Regina Hilber

Mit Christensens barock gestaltetem Gedichtband Schmetterlingstal. Sommerfugledalen fahre ich in das dahinter liegende Gebirgstal alleine weiter nach Sappada, über den Passo Monte Croce Comelico vom Südtiroler Sexten kommend, ins Friaul. Sappada (Plodn) liegt genau unter besagtem Monte Peralba, (Hochweißstein) nun auf italienischer Seite. Mein Bergkamerad wollte es so, ist wenige Stunden nach seiner Liebeserklärung plötzlich und unerwartet davongelaufen. Ein Deserteur der Liebe. Nach seiner Konfession die gesamte Munition verbraucht, hatte er fluchtartig (wie zu Kriegszeiten?), die Frontlinie ver- und mich allein zurückgelassen. Inger Christensens Verse könnten dazu nicht besser passen:

II:
In der mittagsheißen Luft des Brajcinotals,
wo jegliche Erinnerung zerbröselt und alles
sich im Zusammenfallen des Lichtes mit Pflanzenteilen
aus Duftlosigkeit in Duft verwandelt,

gehe ich von Blatt zu Blatt zurück
und setze sie auf die Nessel des Kindheitslandes,
die göttlichste Falle der Natur,
die fängt, was vorher wegflog wie Tage.

Hier sitzt der Admiral in seinem Gespinst,
während er sich aus einer frühjahrsgrünen gefräßigen Raupe
in das verwandelt, was wir Gemüt nennen,

so daß er wie die Schmetterlinge anderer Sommer
die dichte Purpurfarbe des Lebens
aus der unterirdisch bitteren Höhle heraufholen kann.

Aus der unterirdisch bitteren Höhle heraufholen kann. Inger Christensen setzt die jeweils letzte Verszeile an den Beginn des neuen Verses repetitiv ein im schmalen Gedichtband, der als klassischer Sonettenkranz in 14 Sonetten und einem abschließenden Meistersonett komponiert ist:

III
Aus der unterirdisch bitteren Höhle herauf,
wo das erste Traumgewürm des Kellerdunkels
und all die Grausamkeit, die wir am liebsten verbergen möchten,
den Boden unter die Tiefe des Gemüts legt […]

Die jeweils letzte Zeile an den Anfang hebend, manifestiert die Autorin in ihrem Requiem zuvor Gesagtes als Fundament unser aller Rotationsmechanismen: Ängste, Stürme, Ewigkeiten, die Symmetrie der Trauer.

Nach dem unfreiwillig allein erklommenen Passo Sesis (2.367m) im fast senkrechten Kamin alleine zum Gipfel des Monte Peralba (2.694 m) mit seiner weißen Madonna hinauf, scheitere ich ganz kurz unter diesem. Im steilen Felsschutt ausgerutscht, es ist früh am Morgen, verlasse ich das unsichere Terrain. Auch ich kenne meine Ratio. Mein Herz schicke ich in Christensens Traumgewürm des Kellerdunkels.

Kriegsrelikte am Grat oberhalb der Calvi-Hütte © Regina Hilber

Unvorstellbare Bedingungen für die italienischen Soldaten oberhalb des Rifugio Calvi © Regina Hilber

IX:
Und was ich sah, waren nicht nur flatterhafte
Gesichte, die ein Gehirn selber mit Anflügen
von Seelenfrieden und süßen Lügen mischen kann.

Mit Anflügen von Seelenfrieden und süßen Lügen. Das Ende als Anfang, der Anfang im Ende eingeschrieben? Duplizierend, intensivierend, konservierend spinnt die dänische Lyrikerin das Lied vom Schmetterlingstal in Leichtigkeit wie Schwere weiter. Pol und Gegenpol. Dem Loslassen als Schmetterlingsflug durch sonnengeflutete Tage folgen die Tode: sie lauern überall. Ich spiele Perlenspanner schreibt die Grande Dame der dänischen Dichtung, um die Lebensformen der ganzen Welt in eine einzige zu bringen.

Muss man Lyrik lieben, um ihr vorbehaltlos begegnen zu können mit allen ihr innewohnenden Eigenheiten? Kann es gelingen, die Sommerfugledalen trotz barocken Pathos´ nicht als episches sommerliches Kurzmanöver zu verunglimpfen? Der Deserteur der Liebe funkt kurz an mein Handy durch die morgendliche Stille am einsamen alpinen Kreuzungspunkt zwischen Italien und Österreich.

Nach dem steilen Abstieg wieder der schmale Grat des Passo Sesis, Scheidepunkt zwischen zwei früheren Fronten, wo ich meine Schrammen verarzte. Salve! grüßen mich die beiden italienischen Bergsteiger, die von der Via della Guerra herübersteigen. Salve!

Inger Christensen: Das Schmetterlingstal ein Requiem / Sommerfugledalen et requiem. Dänisch und Deutsch.
Bibliothek Suhrkamp, 2011

2.Teil in einer Woche


PS: Beatnek-Literatur reloaded im Turmbund Innsbruck

Regina Hilber liest am Montag, den 4. November 2024, ihre Erzählung aus dem Sammelband Austrian Beat 2 (Hg. Elias Schneitter und Helmuth Schönauer) um 19.00 im Turmbund-Literaturzentrum, Müllerstraße 3/1, Innsbruck.
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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

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