Regina Hilber
Der Liebesstornierer
Ein Reisebericht
2. Teil
Regina Hilber zieht in Sappada weitere Kreise am Karnischen Hauptkamm.
Panorama vom Passo Sesis Richtung Lesachtal hinaus
Was bleibt vom barocken Unterfangen in den Karnischen Alpen? Aus dem Liebesflüsterer wird ein Liebesstornierer: in Schweigen abgetaucht. Über Sexten und den wenig befahrenen Kreuzbergpass über die idyllische Alpenstraße kreuze ich mit dem einzigen Bus des Tages nach Sappada, der höchstgelegenen Gemeinde der oberitalienischen Region Friaul-Julisch Venetien.
Wie ich auf den in Österreich vollkommen unbekannten (ehemaligen) Bergbauernort aufmerksam wurde? Durch eine Kameraeinstellung in Terrence Malicks Filmepos A Hidden Life (Ein verborgenes Leben), das dem Nazi-Widerstandskämpfer Franz Jägerstätter gewidmet ist. Durch den sehr stillen, bildgewaltigen, aber dialogarmen Film breitet sich immer wieder eine mir bis dato unbekannt gebliebene Gebirgslandschaft aus, das idyllische Hochplateau unterhalb des Monte Peralba mit seinen erhalten gebliebenen Bergbauernhöfen.
Ich erkenne sofort, dass die Bauernhofarchitektur tirolerisch ist, die Landschaft aber niemals in Österreich liegen kann. Der später heiliggesprochene Franz Jägerstätter lebte im oberösterreichischen und im gar nicht alpinen St. Radegund. Des Rätsels Lösung: Plodn (italienisch: Sappada) ist eine verstreute Ansiedlung eingewanderter Bauern aus Villgraten auf italienischem Terrain (früheste Datierungen gehen bis ins 11. Jhd. zurück). Architektur wie Sprache zeugen davon.
Zwischen die zahlreichen, mehr als fünfhundert Jahre alten Bergbauernhöfe schiebt sich heute eine bescheidene Hotellerie, die ausnahmslos von Italienern frequentiert wird. Die jahrhundertealte Inselsprache, das Plodarische, ist in der Zwischenzeit im Verschwinden begriffen, trotzdem werden Ortstafeln und Hinweisschilder dreisprachig angeschrieben – plodarisch-deutsch, italienisch und friulanisch, denn 2017 wechselte Sappada nach einer Abstimmung von der Provinz Veneto zur zweisprachigen Provinz Friuli-Venezia Giulia.
Beschilderung dreisprachig
Hoch über Sappada und unweit vom Zustieg zur sensationell eingebetteten Calvi-Hütte (Rifugio Calvi) spuckt die Piave-Quelle ihr jungfräuliches Wasser aus. Der Piave ist der Schicksalsfluss in der venetischen Ebene, ähnlich dem weiter östlich gelegenen Isonzo: Im Ersten Weltkrieg verlief eine berüchtigte Frontlinie entlang des unteren Piave-Flusses. Erinnerung aus meinem Steyr-Essay: Ernest Hemingway wurde direkt an der Frontlinie bei Fossalta di Piave, kurz bevor der Fluss sich bei Jesolo der Adria übergibt, schwer verletzt, wäre beinahe verblutet.
Steil hinunter zur Calvi-Hütte
Zeit, die Karnischen Alpen hinter mir zu lassen, um mich in Udine auszutarieren. Der einzige Bus, der hier oben verkehrt, fährt nur ein Mal pro Tag, am späten Nachmittag. Dafür kommt man mit ihm über Tolmezzo und Udine bis nach Triest. Ausgeschrieben ist dieser Bus nirgendwo. Man muss ihn mühsam im Internet finden. Ohne Italienischkenntnisse ist auch dieses Unterfangen zwecklos.
Die imposante Passstraße hinunter nach Comeglians ist so idyllisch wie abenteuerlich. Dennoch sitze ich ganz bewusst rechts in der ersten Reihe, weil mir sonst wegen der zahlreichen Kurven übel wird. Der Nachteil: ich blicke bei jeder Kehre dreihundert Meter tief in den Abgrund, schwebe von meinem Aussichtsplatz gefühlt über dem freien Fall. Immerhin: Verkehrsaufkommen in der abgelegenen Region gleich Null.
In Comeglians steigt eine alte Dame mit Reisetasche ein. Nachdem wir ein paar zerstreute Siedlungen hinter uns gelassen haben, stürmt die alte Dame nach vorne zum Buschauffeur: Sie hat ihre weiße Handtasche mit Portemonnaie an der Bushaltestelle vergessen, wohin sie ihr Ehemann begleitet hatte. Der Busfahrer gibt ihr zu verstehen, dass er nicht zurückfahren kann. Den Bus zu wenden wäre auf der viel zu engen Fahrbahn auch gar nicht möglich. Alle Passagiere des vorderen Busteiles sind nun involviert, nur der Fahrer hält sich raus, er benötigt seine Konzentration für die gefährliche Straße. Ich frage sie nach der Telefonnummer ihres Mannes, dann könnte ich ihren Ehemann anrufen. Aber die Frau ist sehr verwirrt und aufgeregt, kennt seine Nummer nicht, auch nicht jene ihrer Tochter. Wenn Sie nicht einmal die Telefonnummer Ihres Mannes wissen, haben Sie ihren Gatten nicht verdient! schimpft ein ebenso alter Herr hinter uns. Und ein zweiter Pensionist neben ihm stimmt ihm zu: Nein, Sie verdienen ihn gar nicht! Ob Scherz oder Ernst ist schwer zu sagen.
Aus der alten Dame ist keine Information rauszubekommen, weder wo ihr Gatte wohnt, noch ob er im Telefonregister verzeichnet sein könnte. Im übernächsten Dorf, in Ovaro steigt die Dame etwas kopflos aus, läuft direkt in die Bar neben dem Bus auf die dort sitzenden Herren zu, erklärt nun ihnen ihre Notlage, während wir weiterfahren.
Als der Bus eine halbe Stunde später, die Passstraße haben wir hinter uns gelassen, Tolmezzos Busbahnhof bereits verlassen hat und sich schon kurz vor der Auffahrt zur Schnellstraße Richtung Udine befindet, sehe ich plötzlich besagte alte Dame samt der verloren gegangenen weißen Handtasche wackelig, aber direkt auf unseren Bus zusteuern. Ich sage dem Chauffeur, dass uns hier die Dame entgegenkommt auf dem Straßenbankett. Er ist verwirrt, aber auf mein Beharren hält er den Bus an und nun erkennt auch er die ebenso verwirrte Pensionistin.
Der Bus steht bereits und alle Passagiere in den ersten Reihen applaudieren, als sie einsteigt. Sie selbst hat uns, den Bus nach Udine, nicht erfasst gehabt am Straßenrand, wäre glatt an uns vorbeigelaufen. Die beiden betagten Herren hinter mir schütteln den Kopf, rufen noch einmal unisono: Wenn Sie nicht einmal die Telefonnummer Ihres Mannes wissen, haben Sie ihren Gatten nicht verdient!
In Udine bleibt Zeit, Inger Christensens Sonettenkranz noch einmal zu studieren. Um das barocke Setting zu vervollständigen und um mich sowohl vom Liebesbekenntnis als auch vom Liebesstorno abzulenken, besichtige ich die herrlichen spätbarocken Fresken des Meisters Giovanni Battista Tiepolo im Palazzo Patriarcale, dem ehemaligen Bischofssitz im Herzen Udines. Zur Besichtigung muss man sich per Mail anmelden – es lohnt sich!
„Galleria“ im Palazzo Patriarcale mit dem Freskenzyklus von G. B. Tiepolo
Wer ist es, der diese Begegnung verzaubert?
Von allen Epochen steht Inger Christensen das Barock am nächsten hält Thomas Sparr im Nachwort für den schmalen Lyrikband fest: Das Barock, schreibt Christensen am Ende ihres Essays, sei der Kampf zwischen dem Recht der Götter auf die Fiktion und dem Recht der Menschen darauf – ein Kampf, aber kein Sieg, der ein Ausweg wäre.
Mit einem Vers aus dem letzten Sonett von Inger Christensens Requiem Schmetterlingstal. Sommerfugledalen lasse ich das 36° heiße Udine hinter mir:
XV
[…] Als Bläuling, Admiral und Trauermantel,
als Pfauenauge flattern sie umher
und gaukeln dem Toren des Universums ein Leben
vor, das nicht wie nichts stirbt.
Wer als Tor zurückbleibt? Der Deserteur der Liebe, genannt Liebesstornierer, oder ich? Ich weiß es nicht.
Inger Christensen: Das Schmetterlingstal. ein Requiem. Sommerfugledalen. et requiem. Dänisch und Deutsch. Bibliothek Suhrkamp, 2011
PS: Beatnek-Literatur reloaded im Turmbund Innsbruck
Regina Hilber liest am Montag, den 4. November 2024, ihre Erzählung aus dem Sammelband Austrian Beat 2 (Hg. Elias Schneitter und Helmuth Schönauer) um 19.00 im Turmbund-Literaturzentrum, Müllerstraße 3/1, Innsbruck.
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