Peter Kurer
Aus der Mitte der Ukraine:
Wie S.J. Agnon und Henry Roth
die moderne jüdische Weltliteratur begründeten.
Essay

Halytsch ist die Mitte der Ukraine – zwar nicht geografisch, aber im historischen Selbstverständnis der Nation. Im frühen 13. Jahrhundert vereinigte der westslawische Fürst Roman seine zwei Bastionen am südwestlichen Rand der Kiewer Rus’, Halyc und Wolhynien, zu einem Grossfürstentum. Papst Innozenz IV. kürte dessen Sohn Danylo zum rex russiae, was wir mit König der Rus’ und nicht mit König Russlands übersetzen müssen, weil es dieses damals noch gar nicht gab. 

Später fiel dieses Gebiet an die polnisch-litauische Adelsrepublik, bis es im Jahre 1772 die Habsburger annektierten und ihrem Kaiserreich zuschlugen. Aus dem früheren Halyc und Wolhynien wurde Galizien und Lodomerien, das Königreich der Nackten und Hungrigen, wie man es spöttisch nannte, weil es so arm war. Es gehörte aber fest zu Europa, bereits Danylo, den die Ukrainer bis heute als ihren Gründervater sehen, schaute westwärts. Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert, schrieb Josef Roth.

In diesem einsamen, armen Winkel Europas begann am Ende des vorletzten Jahrhunderts eine literarische Reise, die wunderlich und wundersam zugleich ist: zieht man um Halytsch einen Kreis von 60 Kilometern und legt man über diesen geografischen Perimeter einen zeitlichen, der von 1887 bis 1906 dauert, dann definiert der so entstandene winzige Zeit- und Raumkosmos die Geburtswelt von zwei schriftstellerischen Giganten des zwanzigsten Jahrhunderts: S.J. Agnon und Henry Roth. 

Der eine begründete fernab von seiner Heimat die moderne israelische Literatur, der andere die zeitgenössische jüdische Prosa Nordamerikas. So haben die beiden Hochburgen der modernen jüdischen Weltliteratur ihre Wurzeln in der heutigen Ukraine.

Aber Herkunft beschreibt nicht alles, was aus jemandem wird. Die Geburtsfamilie, die später gewählte intime Lebensverbindung, Zwischenstationen des weiteren Weges, die Religion, die gewählte Sprache, die daraus entstehenden Sehnsüchte und psychischen Belastungen und schliesslich der Ort der Ankunft prägen genauso. Dies lässt sich an unseren beiden Autoren beispielhaft aufzeigen. 

Agnon schrieb in einem religiös und alttestamentarisch grundierten Hebräisch, Henry Roths Sprache ist ein amerikanisches, grossstädtisch aufgerautes Englisch, das gelegentliche jiddische Idiome einschliesst. Agnon starb als orthodoxer Jude, Henry Roth als assimilierter Amerikaner, der nach Zwischenstationen als Kommunist und Zionist erst am Schluss seines Lebens wieder ein gewisses Interesse an seinem religiösen Herkommen entwickelte. Agnon war Graphoman, der ein riesiges Werk hinterliess, Henry Roth steht für die wohl berühmteste Schreibblockade der neueren Literaturgeschichte. Agnon war dominiert von seiner familiären und geografischen Herkunft, von Sehnsuchtsorten, von unerfüllter Liebe und einem beständigen Hadern mit Gott. Auch Roth litt an Familie und Herkunft, aber er lebte nach vorne, wandelte sich in vielen Häutungen und verbrachte den grössten Teil seines Lebens als Agnostiker.

Was Agnon und Henry Roth über alle Unterschiede hinweg eint, ist ihre Bedeutung als Taktgeber für diejenigen, die nach ihnen kamen. Im beschriebenen galizischen Mikrokosmos von Zeit und Raum sind andere bedeutende jüdische Schriftsteller geboren, etwa Joseph Roth, Soma Morgenstern, Manès Sperber, Stanislaw Lem oder Bruno Schulz. All diese sind als Schriftsteller glänzende Unikate, aber anders als Agnon und Henry Roth waren sie nicht Gründer einer eigenen Literaturtradition.

Samuel Joseph Agnon wurde am 8. August 1888 in Buczacz in eine wohlhabende Familie geboren; sein eigentlicher Familienname war Czaczkes, Agnon ein nom de plume. Der Vater, zu dem er ein zwiespältiges Verhältnis hatte, war Pelzhändler und chassidischer Rabbiner, seine Mutter, geborene Esther Farb, eine kränkliche, aber dennoch die Familie dominierende Person, die ihn ein Leben lang nicht losliess und zu einer Konstante seines Werkes wurde. 

Agnon verewigte seine Mutter in unzähligen Erzählungen und Romanen, am schönsten vielleicht in der Novelle In der Mitte ihres Lebens. Im Jahre 1907 ging Agnon nach Lemberg, ein Jahr später emigrierte er erstmals nach Palästina. Kurz darauf starb seine Mutter. Schon vier Jahre später kehrte Agnon nach Deutschland zurück, das damals noch das kulturelle Zentrum Europas war und das ihn in vielerlei Hinsicht prägte. Er heiratete Elsa (später Esther) Marx und verbrachte viele Jahre in Berlin, Leipzig und Bad Homburg. 1924 emigrierte er erneut nach Palästina, wo er fortan lebte. Im Jahre 1966 erhielt er zusammen mit Nelly Sachs den Nobelpreis für Literatur. Agnon starb 1970 in Israel als vielgefeierter Autor.

Geprägt hat ihn bis zum Schluss seines Lebens seine Geburtsstadt Buczacz, und er kehrte literarisch wie auch gelegentlich persönlich immer wieder dorthin zurück, so insbesondere in der Zwischenkriegszeit, als das Land für kurze Zeit polnisch war. Aus diesem Besuch entstand sein Meisterroman Nur wie ein Gast zur Nacht. Der autofiktionale Romanheld trifft darin den Ort durch Krieg und wiederholte Progrome verwüstet an und die Bewohner bar jeder Hoffnung. Der Besucher will Buczacz wieder aufbauen, woran er kläglich scheitert. Viele andere Werke Agnons spielen in Buczacz (unter diesem und anderen Namen) wie die grossartig verschrobene Erzählung Und das Krumme wird Gerade und die umfangreiche Geschichtensammlung A City in its Fullness

Sein zweiter Sehnsuchtsort war Israel, das er in vielen Werken beschrieb, so in Tehilla, seinem zweiten Meisterroman Gestern, vorgestern und dem Spätwerk Schira. Das dritte Heimatgefühl galt dem alten Deutschland, in dem sich damals Juden und Deutsche verträglich begegneten; dort spielt eines der schönsten Bücher Agnons, Herrn Lublins Laden.

Agnon wird oftmals als Dichter einer untergegangenen bukolischen, chassidisch geprägten Landschaft Osteuropas beschrieben. Diese Sicht ist naiv und wird weder seinem Charakter noch seiner Bedeutung gerecht. Agnon war eine komplexe, ja zerrissene Seele, die sich ein Leben lang selbst quälte. Er litt an seiner symbiotischen Mutter, der Distanz zum Vater, später an der neurotischen Hassliebe zu seiner Frau. Er haderte mit seinem Schicksal und Gott, weil er wie die Aufklärer das sichtbare weltliche Leid nicht mit der Vorstellung eines allmächtigen Weltenlenkers in Übereinstimmung bringen konnte. 

Amos Oz, in dessen Elternhaus Agnon regelmässig verkehrte und der ihm in Eine Geschichte von Liebe und Finsternis ein grosses Denkmal setzte, schrieb anderswo, dass alle grossen literarischen Werke aus Verwundungen heraus entstünden und dass Agnons Schreiben deshalb so kraftvoll sei, weil seine Wunden besonders gross klafften.

Seine Zerrissenheit, Ambivalenz und oftmals depressive Stimmung übertünchte Agnon mit grandiosem Spott, ja Hohn und gar Sarkasmus, und obwohl er als realistischer Erzähler gilt, ist oftmals nicht klar, ob er gerade in der Wirklichkeit oder in einem magischen Einbildungs- und Angst-Raum unterwegs ist. Fast alle seiner Geschichten enden schlecht. Der Held von Und das Krumme wird gerade liegt im falschen Grab, Jizchak Kummer von Gestern, vorgestern wird am Ende vom Hund gebissen und stirbt. Das gemahnt an Kafka.

Bei Henry Roth ist vieles, aber nicht alles einfacher. Er verliess im August 1907, als er gerade erst 18 Monate alt war, mit der Mutter seinen Geburtsort Tysmenyzia, um dem Vater nach Amerika nachzufolgen. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen in den Immigrationsquartieren von New York auf, zuerst Brownsville, dann Lower East Side und schliesslich Harlem. Diese Welt war spannend, vielschichtig, vor allem aber auch gnadenlos und brutal. Der ganze Kosmos der Einwanderungswelt New Yorks war hier vertreten, Juden, Iren, Polen, Italiener, Schwarze, und jeder dieser ethnischen Identitäten bildete eine eigene Welt, verfeindet mit der nächsten – der Schmelztiegel war ein einziger Mythos, die Wirklichkeit eine schrille Hölle der Multikulturalität.

Auch Henry Roth hatte eine symbiotische, ihn vereinnahmende Mutter (geb. Leah Farb), die er abgöttisch liebte. Der Vater war ein kleiner, bösartiger Tyrann und Taugenichts. Ein Leben lang haben Henry Roth seine Herkunft, sein Judentum, der tägliche Antisemitismus, die Familie und sein eigenes Ungenügen verfolgt. Er hat das in seinem Opus Magnum Call it Sleep (Nenn es Schlaf) dargestellt, das die Geschichte von Roths Abbild David Schearl von ca. 1908 bis 1914 beschreibt. Call it Sleep gilt zu Recht als einer der ganz grossen modernistischen Romane des zwanzigsten Jahrhunderts, vergleichbar mit Faulkner und Joyce.

Call it Sleep erschien 1934, erhielt gute Kritiken, verkaufte sich aber nur mässig. Nach seiner Niederschrift brach Henry Roth mit dem bisherigen Leben, verliess seine polyamoröse Muse Eda Lou Walton, wurde Kommunist und wandte sich Muriel Parker zu, einer protestantischen Tochter Neuenglands, die er bald heiratete und sein Leben lang liebte. 

Zugleich geriet Henry Roth in eine jahrzehntelange Schreibblockade, die nur durch gelegentlich veröffentlichte Short Stories unterbrochen wurde. Er schlug sich als Hilfsarbeiter und Geflügelfarmer durchs Leben. Im Jahre 1964 wurde Call it Sleep neu aufgelegt. Diesmal verkaufte sich das Buch millionenfach und verhalf Henry Roth zu einem gewissen Wohlstand. Seine Schreibblockade löste sich langsam, er begann an der autofiktionalen Fortsetzung seines Lebens nach 1914 zu schreiben, die er aber erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1995 mit der umfangreichen Tetralogie Mercy for a Rude Stream (Die Gnade eines wilden Stroms) abschloss. Aus dem Nachlass editierte Willing Davidson das letzte Werk Roths, An American Type (Ein Amerikaner).

In diesen späteren Werken löst sich Henry Roths Alter Ego, das nun Ira Stigman heisst, zunehmend von seiner jüdischen Vergangenheit und versucht, sich als Amerikaner zu assimilieren, was ihm indessen nur teilweise gelingt, weil er allenthalben als Jude zurückgestossen wird und an seiner Herkunft leidet. Wie Agnon ist auch Henry Roth depressiv, zerrissen und von Schuld geplagt, die sich auch auf den Inzest mit seiner Schwester und einer Cousine erstreckt. Irgendwie kann er sich aber daraus lösen; einmal sagt Ira, es fühle sich an, wie wenn er Friede gefunden hätte. Steven G. Kellman hat eine sehr sorgfältige Biografie über Henry Roth geschrieben, und diese heisst nicht zufällig Redemption – Erlösung.

Agnons Biograf, Avner Falk, nannte diesen Dean of Hebrew Literature, unzählige ähnliche Aussagen sind verbürgt. Kellman sah in Henry Roth den literarischen Vater von Saul Bellow, Bernard Malamud und Philipp Roth. So wie Agnon bei Oz vorkommt, hat Henry Roth seinen Auftritt in Philipp Roths The Ghostwriter, wo dessen anderes Ich Nathan Zuckermann the great man trifft, dieser heisst im Buch E.I. Lonoff, weist aber eine stringente Ähnlichkeit mit Henry Roth auf.

Agnon wie Henry Roth haben auf vielen Schichten geschrieben – was immer ihre Helden durchleben und erfahren, ist nur die Oberfläche, darunter befindet sich immer eine zweite oder dritte Ebene, eine Anspielung auf die Bibel, auf jiddische Begebenheiten, ein mäandernder Bewusstseinsstrom. Im Rückblick kann man ihr Werk selbst als eine tiefer gründende Geschichte für das verstehen, was gerade heute geschieht. Leid und Schmerz wiederholen sich, in der Ukraine und Israel. Diese Länder, und auch Amerika und Deutschland, sind darin verhaftet. 

Grosse Prosa sieht das, was kommen, bleiben und wiederkommen wird, meistens besser voraus als alle Philosophie, Wissenschaft und Politik zusammengenommen. Vielleicht liegen gerade darin Genie und Grösse dieser beiden Riesen der modernen jüdischen Literatur, auf deren Schultern so manche herausragende Autoren stehen.

Bereits erschienen in: Neue Zürcher Zeitung

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Peter Kurer

Peter Kurer, Rechtsanwalt, Unternehmer, Publizist, wuchs in Zürich auf und besuchte das Gymnasium Stella Matutina in Feldkirch. Die Matura machte er am Kollegium Appenzell im Jahre 1969. Er studierte Rechts-, Staats- und Politikwissenschaften an den Universitäten Zürich (Dr. iur.) und Chicago (LL.M). Danach war er Anwalt und Partner bei der internationalen Anwaltssozietät Baker & McKenzie. Im Jahre 1991 gründete er mit sieben Kollegen die Kanzlei Homburger in Zürich. Er praktizierte hauptsächlich im Bereich M&A und war gleichzeitig Mitglied mehrerer Verwaltungsräte wie Holcim, Kraft Jacobs Suchard, Danzas, und Rothschild Continuation Holdings. 2001 wechselte Peter Kurer als General Counsel (Chefjurist) und Mitglied der Konzernleitung zur UBS. Im Jahre 2008 übernahm er während der Finanzkrise für ein Jahr das Präsidium der Bank. Von 2016 bis 2020 war er Präsident des Telekommunikationsunternehmens Sunrise. Heute ist Peter Kurer Verwaltungsratspräsident des Verlages „Kein & Aber“ sowie Mitglied des Verwaltungsrates von SoftwareOne. Daneben ist er publizistisch tätig. Sein Buch “Legal and Compliance Risk: A Strategic Response to a Rising Threat for Global Business” erschien im Februar 2015 in der Oxford University Press.

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