Literarische Korrespondenz:
Reinhold Knoll an die Leserinnen und Leser
des schoepfblog
Betrifft:
Ich bin krank.
Sehr verehrte Leserinnen und Leser,
im Krankheitsfall sind die Nächte zumeist kurzweilig, denn nicht allein Fieberphantasien bedrängen sie, sondern auch Schmerz, Unruhe, Lebensgeister allzumal, die die Ruhe scheuen.
Die Fieberphantasien sind noch das Erbaulichste. Unmittelbar bedrängen die dunklen Farben in Schuberts Liedern. Sie wischen dahin wie Geister, zuweilen bedrohlich, voll Gier, wollen sich im zermarterten Körper verbeißen, um ihn dann doch zu lassen – weil noch ungesalzen.
Sehr begehrt ist bei den irrlichternden Gespenstern das Blut, speziell von Diabetikern. Man hört sie schlürfen und Kanzonen singen, Loblieder aufs ermangelnde Insulin. Das alles schon ab 22.00 Uhr.
Kaum wieder erwacht, ist es noch immer Viertelzwölf, die Zeit rinnt zäh wie die Ziffernblätter bei Dali. Aber links und rechts keine brennende Giraffe, eher das Grauen, das nach Schubert seine Vollendung erfährt in den Schrecknissen von Max Ernst.
Im Schwindel dreht sich alles um die eigene Achse, so man eine hätte. So lernt man stürzen oder sich stützen am Nächstbesten, an Skulpturen oder Schreibtischen. Geeignet wären Messerschmidts Grimassen. Verächtlich grinsen sie einen nach Mitternacht an.
Man verzichtet auf den Wäschewechsel, alles schweißnass und unappetitlich. Man kann einfach nicht. Der Weg zurück zum Bett ist wie die Erstbesteigung des Matterhorns. Man will es dennoch nicht, denn kaum Erholung vom erschöpften Corpus beginnen erneut die Phantasien mit Hexenjagd.
Es ist das schrille Pfeifen, der ins Bild gesetzte Wahnsinn, der als Übermalung alles auslöscht. Unwillkürlich jagen die Gedanken in die Hektik schwarzen Übermalens zu Arnulf Rainer. Übermalen ist natürlich falsch. Es ist ein Zu-Malen, ein Auslöschen, dessen Reiz darin besteht, ein Fleckchen frei zu halten als hätte man es vergessen.
Und wenn er vor 50 Jahren zahllose Kreuze übermalte, dann wohl um anzukündigen, dass es mit dem Christentum zur Neige geht. Natürlich kann man es nicht einfach vergessen, ein Quäntchen bleibt immer von allem, das lehren ja Archäologen, also die Konturen eines Kreuzes sind noch vorhanden, aber sonst?
Der Gedanke an die Wirklichkeit des Kreuzes ist im Krankenstand schnell gefasst. Man denkt, warum ich? Ich jetzt à tout prix? So ER doch alles auf sich nahm? Kühne Gedanken, die bis 01.00 Uhr andauern. Dann das Hineingleiten in den Schlummer, der aber nicht eintritt. Die Gespenster kommen wieder.
Geräuschlos huschen sie ums Bett herum. Sie tanzen zur Symphonie fantastique voll Spott und Hohn. Man hört die Gebeine klappern. Erstmals eine fruchtbare Idee: Das hat Richard Wagner ordentlich zum Kitsch verschaukelt. Die Ouvertüre zur Götterdämmerung mag noch hingehen, gerade jetzt um 02.00 Uhr. Das Gepolter der Pauken. Aber dann? Wehleidiges Jammern der Götter vom 19. Jahrhundert! Da rettet nur noch Pierrot Lunaire. Die Gesangsstimme beginnt wieder zu sprechen. Zwar leicht hysterisch, doch damit hat schon damals unsere Gegenwart begonnen.
Das Problem des Poeten löst die kreidebleiche Wand im finsteren Zimmer: Er nimmt sich zu ernst. Wenn sie spricht/singt: Sehnsucht, schrecklich und süß, so ist man schon im Irrgarten. Wie kann Sehnen eine Sucht werden? Also Drogen. Um zwei ist das Farbenspiel immer noch zwischen grau, dunkel, weiß und schwarz. Da wird die Erinnerung an Schubert attraktiv. Man kann nicht immer hören, wenn gegen den Strich zu bürsten ist.
Es bleibt offenbar immer 02.00 Uhr. Man beobachtet die Uhr, man stellt Uhrenvergleiche an. Sie alle besagen das Gleiche: Es ist 02.00 Uhr. Bei der einen vielleicht schon 1 nach 02.00 Uhr. Die Rückkehr ins Rationale misslingt. Es macht Kopfweh. Das genaue Beobachten der Uhr schmerzt. Und wenn es hoch hergeht, dann ist es bestenfalls 3 Minuten nach 02.00 Uhr. Man lässt es bleiben.
Unwillkürlich bemerkt man, das Fieber schwächelt. Ich stimme ein Loblied auf die Pharmaindustrie an. Sie führt an meiner statt den Kampf gegen Viren oder Bazillen. Sie ist teilweise erfolgreich inzwischen. Kein Schüttelfrost mehr. Er existiert nur noch in der Erinnerung. Aber das alles zählt nur für die subalterne Intellektualität.
Vielleicht ist es 5 nach 02.00 Uhr? Ein Merkmal der Kapitulation. Wach zu sein zu nachtschlafener Zeit. Man sehnt sich nach 03.00 Uhr oder gar 04.00 Uhr. Wenn der Tag dämmert. Unaufhaltsam. Er verscheucht alle sonderbaren Erscheinungen, das Gehörte, das Gesehene, das Imaginierte.
Ihr Reinhold Knoll
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