Literarische Korrespondenz:
Christoph Turowski an schoepfblog
Betrifft:
Das Leid der Anderen
Zur Diskussion über Freitodbegleitung

Liebe am Thema Suizidhilfe interessierte Mitmenschen !

Heute stelle ich Ihnen die Überlegungen eines sehr erfahrenen Suizidhelfers zur Verfügung. Namentlich möchte ich ihn nicht nennen. Er hat sich seine kritischen Gedanken „von der Seele“ geschrieben, mit denen ich überwiegend übereinstimme, und mir geschickt. 

Mit herzlichen Grüßen Christoph Turowski, Arzt in Berlin


PS des Herausgebers des schoepfblog:
Am Tag des Erscheinens dieses Berichtes veranstaltet die gegen Sterbehilfe ankämpfende Tiroler Hospizbewegung gemeinsam mit der Caritas im „Haus der Begegnung“ in Innsbruck um 19.00 Uhr einen sogenannten „Dialogabend“. Man darf gespannt sein, wieviel Toleranz sich hinter den wohlklingenden Worten der Einladung verbirgt.


Bericht des deutschen Sterbegleiters

Aus Anlass des fünften Jahrestages des bahnbrechenden Urteils des Deutschen Bundesverfassungsgerichtes über das Recht jedes Menschen, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende setzen zu dürfen, hat die Diskussion darüber erheblich Fahrt aufgenommen.

Nach wie vor und mehr denn je werden Stimmen laut, die aus ethischer, moralischer und nicht selten aus theologischer Sicht diese Regelung infrage stellen und lautstark nach einer staatlichen gesetzlichen Regelung rufen. Wie immer eine mögliche Regelung aussehen kann und wird, in keinem Fall kann sie alle persönlichen Schicksale erfassen und abdecken, die hinter den durchgeführten und noch durchzuführenden Begleitungen stecken.

Wer bitte von diesen Experten hat jemals an einer Freitodbegleitung teilgenommen? Es gibt einzelne Ausnahmen. Aber immer wieder werden die Abkehr von Moral und Ethik beschworen – was immer das heißen mag. Und immer wieder wird an unsere Vergangenheit des dritten Reiches mit Euthanasie und den damaligen Schrecken erinnert, die der damalige Staat ermöglicht hat. Das kann heute doch kein Maßstab mehr sein.

Absicht und Ziel des Urteils ist es, den Menschen zu helfen, ein für sie nicht mehr lebenswertes Leben beenden zu dürfen. Die Einschätzung dessen, was für mich nicht mehr lebenswert ist, obliegt alleine der Entscheidung des Individuums. Immer liegt dieser Entscheidung eine Empfindung zugrunde, die unerträgliches Leid beinhaltet. Dieses Leid kann körperlich oder seelisch sein.

Aber es ist eine unerträgliche Arroganz unserer Gesellschaft, dass dieses Leid eines Einzelnen der Nachprüfung durch andere Menschen ausgesetzt werden soll und muss. Wie wir an den Prozessen gegen zwei Ärzte und Freitodbegleiter erlebt haben, werden als Gutachter Experten bemüht, die sich anzunehmenderweise nie in der Praxis mit Freitodbegleitung befasst haben. Und alle Experten zu diesem Thema sind Professoren, Doktoren, Psychiater, Moralethiker, Theologen. Wenn man nicht mindestens ein abgeschlossenes Studium hat, wird man bei der Diskussion nicht wahrgenommen. Da sind die Damen und Herren ganz unter sich. Was ist Moral?

Moral ist die Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden. (Oxford Languages /Wikipedia). Diese Normen haben sich im Verlaufe der Zeit immer wieder geändert und werden sich weiter ändern. Das sehen wir jeden Tag in unserer Welt. Verhaltensweisen, die vor Jahren noch als unsittlich angesehen und empfunden wurden, sind heute gesellschaftsfähig. Ein Beispiel mag der frühere Begriff des ehrbaren Kaufmanns sein. Wer sich in dem Beruf noch so verhalten will, ist bald weg vom Markt.

Aber aus dieser Definition ergibt sich zwingend der Wert eines zwischenmenschlichen Verhaltens, das dann nicht mehr menschlich sein kann, wenn die Würde und damit die Werte des einzelnen Menschen keinen Platz mehr finden. Daher müssen die Grundsätze und die Werte unserer Gesellschaft einer steten Überprüfung unterzogen werden. Nach meiner Erkenntnis überlassen wir das in unserer Zeit allzu sehr der Justiz. Was nicht juristisch geregelt ist, hat keinen Bestand.

Wo bleibt die Menschlichkeit?

Diskutiert wurde nach meinen Erkenntnissen nie das Leid der betroffenen Menschen, weil es nicht diskussionsfähig ist, für Außenstehende nicht nachvollziehbar und nicht objektiv bewertbar. Aber dieses individuell empfundene Leid und die Konsequenzen daraus für die Würde der Menschen, die dieser Last ausgesetzt sind, sollten der eigentliche Hintergrund und Beweggrund für diese historische Entscheidung gewesen sein.

Immer mehr melden sich auch die Kirchen zu Wort und beklagen die Missachtung des göttlichen Willens.

Religionen und deren Ansichten haben bei dieser Diskussion keinen Platz. Wenn man sich die Geschichte der Kirchen anschaut, die Greueltaten, die seit Jahrhunderten im Namen Gottes angerichtet wurden, die nicht erfolgte Aufarbeitung von ausgeübter Gewalt an Kindern, Jugendlichen und hilflosen Menschen, dann sind die Vertreter dieser Kirchen nicht diejenigen, die über andere Menschen richten dürfen, wenn diese ihr Recht auf selbstbestimmtes Sterben in Anspruch nehmen. 

Jedem Menschen sei zugestanden, entsprechend seiner religiösen Überzeugung zu leben – und zu sterben. Das beinhaltet nicht das Recht, diese Überzeugung anderen Menschen überzustülpen, wenn dies zu leidvollem und für die Betroffenen unerträglichem Ende führt.

Die heilige Mutter Theresa ist vielen Menschen ein Begriff und soll ein leuchtendes Vorbild für gelebte christliche Nächstenliebe gewesen sein. Wenig bekannt ist die Tatsache, dass sie sich angeblich immer geweigert haben soll, Geld aus den Millionenspenden an ihr Hospital für ausreichend Schmerzmittel zu verwenden. Begründung: Das Erleiden von Schmerzen soll die Betroffenen dem Leid Christi näherbringen, das er für die Menschen erduldet hat. 

Ist das (christliche) Nächstenliebe?

Politiker behaupten, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil den Gesetzgeber beauftragt habe, eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Das ist eine Lüge. Der entsprechende Passus lautet:

…Hieraus folgt nicht, dass es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen untersagt ist, die Suizidhilfe zu regulieren…

Das ist kein Auftrag.

Einer der Vorschläge zur Regelung der Freitodbegleitung beinhaltet die Forderung nach einem flächendeckenden Netz von Beratungsstellen für die betroffenen Menschen. Diese sollen besetzt werden mit Psychiatern, Juristen und Ärzten. Wenn diese zustimmen, darf sich der Betroffene jemanden suchen, der ihm hilft.

Welch eine Anmaßung! Was geschieht, wenn einer der Gutachter überzeugter Gegner aus religiösen Gründen ist? Wer soll das bezahlen? Wo sollen die Gutachter herkommen?

In jedem Fall wäre das ein hervorragender Beitrag zur Bürokratie.

Niemand kann das Leid eines anderen Menschen in Gänze nachvollziehen. Und wenn ein mitleidiger Mensch einem anderen zur Seite steht, kann er nur mit-leiden und versuchen, das Leid zu mindern. Dabei helfen Gespräche und vielleicht eine tröstliche Umarmung. Wenn die Leidensfähigkeit eines Menschen erschöpft ist, wenn er in eine für ihn nicht mehr ertragbare Zukunft blickt, wenn physische und psychische Belastung unerträglich ist, hat er das Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

2024 waren von einer Million Todesfällen in Deutschland etwa 1000 Fälle Freitodbegleitungen, das sind 0,1 %. Es gibt eine steigende Tendenz, aber in anderen Ländern ist die Zahl um vieles höher.

Entgegen dem hartnäckigen Widerstand der Realität wird trotzdem der Untergang des Abendlandes beschworen. Doch es ist eine Zunahme der Menschlichkeit und keine Abkehr von Sittlichkeit und Moral.

Allen Freitodbegleitungen gemeinsam ist die unendliche Dankbarkeit der betroffenen Menschen.

Zitat 1 (alter Herr, krank, an einem 23.Dezember): Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe.

Zitat 2 (alte Dame, austherapiert): Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Sie sind ein barmherziger Mensch. Gott segne Sie.

Welche Regelung auch immer getroffen wird vom Gesetzgeber, es wird immer ein Eingriff in das geltende und gerichtlich bestätigte Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Menschen sein.

Es werden Mandatsträger sein, die ein Gesetz nach unendlichen Diskussionen über Recht und Ordnung beschließen. Vom Leid der betroffenen Menschen wird nicht die Rede sein. Es ist das Leid der Anderen

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Rainer Haselberger

    Es ist eine unerträgliche Arroganz der Kirchen, das Selbstbestimmungsrecht des Menschen mit der Halluzination eines „Göttlichen Willens“ in Frage zu stellen. Die Kirchen sollten sich um ihre internen Angelegenheiten einmal anständig kümmern. Im laizistischen Staat hat die größenwahnsinnige Fiktion „Gott“ kein Mitspracherecht, nicht einmal ein Anhörungsrecht! Päpstliche oder royale Autokratien sollten vielleicht einmal die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durchlesen und ihre 10 Gebote daran anpassen.

Schreibe einen Kommentar