Literarische Korrespondenz:
Alois Schöpf an Franz Osl
Betrifft:
Die Unbildung und
die Schrottprogramme unserer Musikkapellen
Die Ursache liegt in den Schulen.

Lieber Franz!

Als Musikerkollege erlaube ich mir das kameradschaftliche Du. Ich danke Dir, dass du in deinem Leserbrief an schoepfblog die Problematik unserer Musikkapellen auf den Punkt gebracht hast.

Junge Kapellmeister, die von der Musikgeschichte und den Meisterwerken dieser Musikgeschichte kaum eine Ahnung haben, dirigieren junge Musikerinnen und Musiker, die davon noch weniger wissen und angeblich nur dann dem Verein erhalten bleiben, wenn sie die seichte Kommerzmusik, die sie tagtäglich in den Medien konsumieren, auch am Instrument nachspielen dürfen.

Diese deine, von mir überspitzt ausformulierte Diagnose möchte ich durch zwei Beobachtungen aus meiner eigenen zwanzigjährigen Kapellmeistererfahrung ergänzen.

1.
Die Kapellmeister sind deshalb jung, weil ältere Semester sich nicht die Fron eines Jobs antun, zu jeder Faulheit, Unverlässlichkeit und Frechheit ein freundliches Gesicht machen zu müssen. Zudem verdienen sie oft mit zunehmendem Alter ausreichend, um nicht für solche Mühen auf eine steuerschonende Gage angewiesen zu sein.

Die Vereine selbst wiederum schätzen junge Kapellmeister, weil sie meinen, nur Junge könnten Jugendliche begeistern, was nur beschränkt zutrifft, da es zuletzt immer noch auf das fachliche Können und das pädagogische Talent ankommt. Junge Kapellmeister haben aber auch den Vorteil, gegenüber Missständen im Verein wehrlos zu sein, da sie noch nicht erfahren genug sind, abseits des Spiels von Amateuren, in der Organisation professionelle Bedingungen einzufordern.

2.
Ich leitete mit der Stadtmusik Innsbruck-Saggen jahrelang eines der am stärksten besetzten Blasorchester Tirols, das durchwegs künstlerisch hochwertige, heute würde man sagen, „traditionelle“ Programme präsentierte, in denen selbstverständlich die klassische Moderne inkludiert war. Kein einziger Musiker und keine einzige Musikerin, wir hatten 36 weibliche Mitglieder, hat wegen dieser angeblich konservativen Programme den Verein verlassen.

Die These, dass die Jugend aussteigt, wenn nicht ihre spezifische Musik einstudiert wird, ist vergleichbar der Aussage jener Hoteliers, die sich entsetzliche Kitschburgen im alpenbarocken Stil gebaut haben und nun behaupten: „Des wollen die Deutschen so!“ Fakt ist, dass sie als Bauherren es so wollten und die Gäste lediglich zum Vorwand genommen werden, um sich gegen in diesem Fall architektonische Kritik abzusichern.

Fakt ist es in diesem Sinne ebenso, dass für die seichten Programme einer Musikkapelle nicht die Jugend, sondern der Vorstand und vor allem jene Kapellmeister verantwortlich gemacht werden müssen, die, siehe oben, nicht wissen, was gute Musik bzw. gute Arrangements sind, oder, selbst wenn sie es wüssten, selbige nicht mit Leidenschaft ihrem Orchester vermitteln können.

Der Kern des Problems

Womit wir beim Kern des Problems angelangt sind: Der entscheidende Punkt ist nämlich die unentschuldbare mangelnde Bildung der Kapellmeister, ergänzt durch die solche Unbildung gutheißende ungebildete Vereinsvorstände bis hin zur mangelnden Bildung der Orchestermitglieder selbst, die alle eines der teuersten Schulsysteme Europas durchlaufen haben.

Mit dem Begriff „unentschuldbar“ sollen dabei nicht jene kritisiert werden, die im Grunde Opfer eines Systems sind, das den Grundsatz “non scholae, sed vitae discimus” skandalös ins Gegenteil “non vitae, sed scholae discimus” verdreht hat.

Wenn ich daran denke, welch unbedarfte Herren und Damen, nur weil sie ein Instrument leidlich traktieren können, als Musiklehrer auf die Jugend losgelassen werden, wundert mich nichts mehr: Wie sollen sie im Sinne der Kunst und im Sinne unserer Österreichischen und europäischen Musikgeschichte je etwas bewirken können, wenn ihre Geschmacksnerven jenen ihrer Schüler ähneln, da trotz aller Prüfungen zur Befugnis, einen Lehrer zu spielen, nie jemand von ihnen die Qualifikation musikalischer Bildung eingefordert hat.

Die Rede ist von österreichweit ca. 12.000 Lehrern und Lehrerinnen, die entweder in der Schule Musik unterrichten oder in Musikschulen Instrumentalunterricht erteilen. Unentschuldbar ist aber nicht nur ihre Minderleistung, sondern auch die Minderleistung jener, welche die Lehrpläne zu erstellen und ihre korrekte Umsetzung zu kontrollieren haben. Eine ganze Branche, die über Gemeinden, Länder und den Gesamtstaat ca. 600 Millionen Euro pro Jahr kostet, darf mehr oder weniger tun, was sie will, und wird im Hinblick auf den künstlerischen Erfolg ihrer Tätigkeit zu wenig kontrolliert und schon gar nicht evaluiert. Daran ändern auch noch so bewundernswerte Spitzenleistungen am Instrument etwa bei Prima La Musica-Wettbewerben nichts.

Es ist trotz hoher staatlicher Investitionen ganz offensichtlich nicht gelungen, der Jugend und den für diese Jugend musikalisch Verantwortlichen ein Minimum an Wissen, noch besser: ein Interesse und am allerbesten: eine lebenslängliche Liebe zur Musik, zur eigenen Musikkultur und ihren Meisterwerken aus Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln. Dies ist ein stiller kulturpolitischer Skandal und eine flagrante Verschwendung öffentlicher Mittel, Tatsachen, die durch die unsäglichen Programme unserer Amateurmusikvereine bestätigt werden.

Diese Kritik an der Lehrerschaft gilt natürlich auch abgemildert, da dabei viel ehrenamtliches Engagement im Spiel ist, für all die Dachverbände, welche die Interessen der Österreichischen Kultur und Identität im Rahmen des Amateurmusikwesens zu vertreten hätten, in Wirklichkeit aber nur müde lächelnd und um die eigene Ordensbrust besorgt den musikalischen Geschmackseinbrüchen ihrer Mitgliedsvereine beiwohnen, ohne je ein kritisches Wörtchen zu äußern.

Wenn das Amateurmusikwesen sich somit, wie immer öfter in der Blasmusik, nur noch auf die soziale Komponente reduziert und das Ziel, künstlerisch Hochwertiges einzustudieren, um damit die hohen Investitionen in die Breitenkultur der Musik zu rechtfertigen, wird eines Tages, wenn die Sparzwänge noch größer werden, wie in den Niederlanden, auch im Musikland Österreich die Musikerziehung dem privaten Interesse der Bürger überlassen, was unweigerlich den sofortigen Niedergang der blasmusikalischen Vereinslandschaft zur Folge hätte.

Musikalisch würde dies in Anbetracht der Programme kaum jemand bedauern, sozial, identitätspolitisch, touristisch und künstlerisch wäre es eine Katastrophe.

Mit kollegialen Grüßen Alois 

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor, Journalist, Veranstalter, geb. 1950, lebt bei Innsbruck, schreibt seit 41 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 34 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Nach seiner Tätigkeit als ORF-Fernsehredakteur für Fernsehspiel und Unterhaltung verfasste Schöpf Romane, Erzählungen, Märchenbücher und in den letzten Jahren vor allem Essays zu relevanten gesellschaftlichen Themen. Daneben schrieb er Theaterstücke und vier Opernlibretti. Schöpf war auch als Blasmusikdirigent tätig und ist Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte, die er 25 Jahre lang bis 2019 leitete. Zuletzt gründete er 2020 das Online-Magazin schoepfblog, an dem 40 renommierte Autorinnen und Autoren mitarbeiten.

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