Lena Hallbrucker
Als Englischlehrerin in einem indischen Dorf
Reportage
2. Teil:
Kirche / Pondicherry / Klassenunterschiede / Vinnarsi

1. Teil: https://schoepfblog.at/lena-hallbrucker-als-englischlehrerin-in-einem-indischen-dorf-reportage-1-teil-aufbruch-schlaflose-naechte-kleidung-a-letter-from-india/


Am Sonntag gehen wir in die Kirche

Indien ist das bevölkerungsreichste Land der Erde mit knapp 1,8 Milliarden Einwohnern. Ein Großteil der indischen Bevölkerung ist religiös – und aus so vielen verschiedenen Menschen ergeben sich viele verschiedene Religionen und Glaubensrichtungen. 

Auch das Christentum hat eine tief verwurzelte Geschichte in Indien: Dem Neuen Testament zufolge reiste Apostel Thomas nach Indien, um das Evangelium zu verbreiten, wo er jedoch getötet wurde. Sein Grab befindet sich in der St. Thomas Church in Chennai, der Hauptstadt Tamil Nadus – somit steht in Tamil Nadu eine der drei Kirchen, die weltweit auf dem Grab von Aposteln gebaut wurden. 

Später wurde der christliche Einfluss durch Kolonialmächte verstärkt. Heute ist ungefähr 1% der indischen Bevölkerung christlich. Die Don Bosco Matriculation School und das Mädcheninternat sind katholisch geführt, die Schülerinnen und Schüler bekennen sich ungefähr zu gleichen Teilen jeweils zum Christentum und zum Hinduismus.

Ebenso kommen mit vielen Menschen auch viele Sprachen. Indien hat 29 Bundesländer, wovon jedes seine eigene Sprache (mit eigenem Alphabet) hat. Der Name der Sprache leitet sich dabei häufig vom Namen des Bundeslandes ab – in Punjab spricht man Punjabi, in Gujarat spricht man Gujarati und in Tamil Nadu spricht man Tamil (die Amtssprache Hindi leitet sich vom ursprünglichen Namen Indiens, also Hindustan, ab). Das tamilische Alphabet besteht aus 264 Zeichen, außerdem ist Tamil eine der ältesten Sprachen der Welt.

Die Messe dauert heute besonders lang und der harte Fliesenboden verträgt sich so gar nicht mit meinen Knöcheln. Father Nithiyen predigt heute zum ersten Mal als ordinierter Pfarrer, und was auch immer er erzählt, es scheint ihn tief zu bewegen. 

Der tamilischen Sprache bin ich nie Herr geworden, und so sitze ich jeden Sonntag im Schneidersitz in der Kirche, ohne irgendein Wort zu verstehen. Wie immer ist der große Raum brechend voll, alle kommen in ihren schönsten Klamotten, singen mit und beten aus Überzeugung. 

Ob Gottesdienste in Österreich früher auch so waren? In den kalten Kirchen daheim sind die spärlichen Besucher im Durchschnitt um die 70, womit sie meist sogar noch jünger als der predigende Pfarrer sind. Ich muss an ein Gespräch mit Apparna, der reichen Fotografin aus Bangalore, denken. In ihrer Umgebung ist fast niemand religiös, was sie damit begründet, dass gebildetere und wohlhabendere Menschen es nicht nötig haben, auf die Gnade eines Gottes angewiesen zu sein. Außerdem lasse sich jedes religiöse Phänomen inzwischen wissenschaftlich erklären, wodurch sie an Wunderhaftigkeit verlieren. 

Hängt diese religiöse Leidenschaft, die ich hier in diesem winzigen Dorf am Ende der Welt täglich erlebe, wirklich mit ihrer Armut zusammen? Sollten reiche Menschen nicht viel mehr Grund haben, dankbar zu sein, als arme Menschen? Wieder einmal spiele ich mit dem Gedanken, Theologie zu studieren. Allerdings werden diese Gedanken jäh von der Sängerin unterbrochen, die viel zu laut und schrill ins Mikrofon brüllt. Halleluja.


Pondicherry

Nicht nur die Briten hatten Kolonien in Indien, sondern auch die Spanier, Portugiesen und Franzosen. Die ehemals französische Kolonie Pondicherry ist heute das kleinste Bundesland Indiens – es liegt am Meer und ist von Tamil Nadu umschlossen. Pondicherry ist ein beliebter Touristenort, außerdem leben dort viele Europäer. 

Berühmt ist der Ort unter anderem auch durch Auroville, dem Friedensdorf, wo Menschen aller Ethnien und Religionen in einer autarken Gesellschaft leben und arbeiten. Mit dem Bus kommt man vom Mädcheninternat innerhalb von zweieinhalb Stunden nach Pondicherry.

Eine kräftige Meeresbrise weht am Strand von Pondicherry, aber sie bringt nicht diesen charakteristischen Meeresgeruch nach Salz und Sonnencreme mit sich, den man vom Mittelmeer kennt. Die Luft hier riecht nach Hitze, gebratenem und frittiertem Essen und Staub. 

Ich gehe an dem vollkommen überteuerten Hotel vorbei, in dem ich mit meiner Familie über Weihnachten geblieben bin. Das war ein dekadenter Unterschied zum Mädcheninternat, und das schlechte Gewissen lässt sich nicht abschütteln. Schlechtes Gewissen, weil ich ohne irgendeine eigene Leistung durch Zufall in einem wirtschaftlich stabilen Land aufgewachsen bin und die Möglichkeit habe, in teuren Hotels zu übernachten, in dem ein Zimmer für indische Verhältnisse mehr kostet als ein Haus und eine Schulausbildung. 

One photo? Verwirrt schaue ich in die Gesichter von ein paar jungen Indern, die ein Selfie mit mir machen wollen. Das ist keine Seltenheit, sondern passiert mehrmals täglich, wenn ich unterwegs bin. Für viele Inder ist es ein Highlight, europäische Touristen zu sehen, weshalb viele auch Fotos mit mir machen wollen. Nur aufgrund meiner Herkunft, über die sie nicht mal irgendwas wissen. Es gilt die Annahme: Internationaler Tourist = Attraktion. 

Nach jahrzehntelanger Unterdrückung durch Weiße und nach Gandhis Kampf für die Unabhängigkeit hätte ich mir eher Feindseligkeit und Misstrauen erwartet, stattdessen werde ich teilweise behandelt wie ein Filmstar, ohne irgendwas dafür getan zu haben. Für sie ist mein schlechtes Gewissen nicht nachvollziehbar. Ich überlege kurz, ob ich das Foto ablehnen soll, stelle mich dann aber zu ihnen.


Klassenunterschiede

Offiziell wurde das indische Kastensystem in den 1970er-Jahren per Gesetz abgeschafft. Dennoch herrscht noch eine Klassengesellschaft, in der extreme Unterschiede auffallen. In Indien leben die Reichsten der Reichen neben den Ärmsten der Armen, gewaltige Wolkenkratzer aus glänzendem Chrom sind nur durch eine einzige Straße von Slums getrennt. Das Wirtschaftswachstum ist so hoch wie nie zuvor, dennoch lebt der Großteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Im Dorf wird der Geburtstag eines Kindes gefeiert, indem es eine große Packung voller Toffees mit in die Schule bringt und sie unter seinen Freunden verteilt. Von der Familie bekommt das Geburtstagskind ein neues Gewand, das es auch in der Schule statt der Uniform tragen darf, meist gibt es familienintern auch noch einen Kuchen. 

Das alles geht mir während der Geburtstagsparty von Kavya, Apparnas inzwischen achtjähriger Tochter, durch den Kopf. Ich bin mit einem Sleeper-Bus von Villupuram nach Bangalore gefahren, habe dann noch ein bisschen in einem Park vor mich hingedöst und bin mit einem Uber zu Apparnas Wohnung gefahren. 

Nach einem gemeinsamen Frühstück (Sauerteigbrot, halleluja) haben wir uns für die Party zurechtgemacht, die in einer Art Kunstwerkstatt stattfindet, passend zum Thema der Party Kunst. Kavyas Freundinnen und Freunde können sich an vier Stationen künstlerisch austoben, wobei jede Station einem Künstler gewidmet ist – ich betreue die Station für Jackson Pollock, an der Leinwände avantgardistisch mit Farbe bekleckert werden. 

Alle Kinder kommen aus reichen Familien, gehen auf teure Privatschulen und sprechen fließend Englisch. Die meisten der Eltern sind auch da, sie sind modern angezogen, tragen die Haare offen und teilweise gefärbt, und unterhalten sich ausschließlich auf Englisch. 

Vorhin bin ich in einer Gruppe mit einer UNO-Angestellten, einer PR-Managerin und einem Bankier gestanden, die ganz fasziniert waren, wie es in dem Dorf zugeht, in dem ich wohne. Im Garten steht ein großes Zelt, in dem von jungen Männern verschiedene Gerichte zubereitet werden, und der riesengroße Geburtstagskuchen sieht aus wie Van Goghs  Sternennacht. 

Nach der Kinderparty begleite ich die Erwachsenen noch in ein Lokal, das tatsächlich Biergarten heißt, bevor mich Apparnas Fahrer zum Bus bringt. Ich bekomme noch mit, dass die Party 60.000 Rupees (Referenz: Das Monatsgehalt einer Lehrerin an der Schule im Dorf beträgt ca. 8.000 Rupees) gekostet hat. Auf der Busfahrt schwirrt mir immer noch der Kopf.


Vinnarsi

Die indische Küche ist vielfältig und hat einiges zu bieten, ohne dabei extravagant oder kompliziert zu sein. Im Gegenteil: ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass die simpelsten Gerichte am besten schmecken. Fester Bestandteil der indischen Küche sind Fladenbrote verschiedenster Art (das in Österreich wohl bekannteste ist Naan). 

Die simpelste Variante wird in Südindien als Chapatti bzw. in Nordindien als Roti bezeichnet. Der Teig dieses Fladenbrots besteht aus Mehl, warmem Wasser, etwas Pflanzenöl und Salz.

Es war ein anstrengender Schultag, aber endlich sitze ich im Bus Richtung Internat. Die Mädchen plappern wild durcheinander, erzählen sich von den Erlebnissen des Tages – wieder einmal bewundere ich ihre Energie, die nie auszugehen scheint. 

Kaum am Parkplatz angekommen, rennen die Mädchen zum Internat, denn sie wollen möglichst schnell ihre Uniformen waschen, um mehr Freizeit vor dem Lernen herauszuschlagen. Ich trotte hinter ihnen her und steuere wie automatisiert die Außen-Kochstelle an. 

Vinnarsi, die Köchin und Haushälterin, sieht mich kommen und weiß bereits, dass ich die einzigen zwei Sätze auf Tamil mit ihr wechseln werde, die ich beherrsche, um mich danach schnell umzuziehen und wieder zu ihr zu kommen. Heute ist Dienstag, was bedeutet, dass es Chapatti für die Mädchen zum Abendessen gibt. 

Schnell hochgerechnet: 3-4 Chapattis pro Kopf ergeben insgesamt ungefähr 280 vorzubereitende Chapattis. Das wiederum bedeutet 1-2 Stunden meditierende Arbeit für mich, während der ich nichts denken oder besonderes leisten muss, die mir aber trotzdem oft sinnvoller erscheint als das Unterrichten. 

Ab und zu kommt Vinnarsi, um zu kontrollieren, ob ich nicht zu viel Mehl verwende, und wir unterhalten uns zwar mit Worten, aber ohne Sprache. Sie scheint mir die einzige zu sein, die mich verstehen kann, obwohl sie kein Wort Englisch spricht – und umgekehrt. 

Vinnarsi hat fünf Kinder, wovon zwei bereits aufs College gehen. Obwohl Vinnarsi nach der achten Klasse ihre Schulbildung abgebrochen hat, ist es ihr sehr wichtig, alle ihre Kinder aufs College schicken zu können. Dafür arbeiten sie und ihr Mann sehr hart, denn Schul- und Studiengebühren sind nicht ganz billig (pro Jahr und Kind je nach Schulstufe zwischen 8.000 und 16.000 Rupees). 

Allerdings gibt ihr Mann oft Geld für Alkohol aus. Sie ist knapp 40 Jahre alt, aber ihr Rücken bereitet ihr schon große Probleme – trotzdem verrichtet sie täglich Schwerstarbeit. Sie steht um vier Uhr morgens auf, kocht für ihre eigenen Kinder, kocht dann für die Mädchen im Internat und hält den Hof in Schuss. Nachmittags kommt sie wieder, bereitet Snacks für die Mädchen und das Abendessen vor, geht nach Hause und kocht wieder für ihre Familie. 

Ich habe selten einen selbstloseren Menschen gesehen und versuche, ihr so oft wie möglich zu helfen. Allerdings bin ich viel ungeschickter als sie, wofür sie mich oft auslacht.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Lena Hallbrucker

Lena Hallbrucker, geb, 2004, Matura 2022 am BRG Innsbruck, freiwilliges Auslandsjahr in Indien 2022-2023, Bachelor-Studium Gesundheitsmanagement am MCI Innsbruck seit September 2023, parallel dazu Bachelor-Studium Journalismus online an der IU seit Oktober 2024, neben dem Studium Verwaltungskraft in sozialem Verein in Hall.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Helmut Schiestl

    Interessanter Bericht! Allerdings sollten wir Indien nicht mit Österreich verwechseln, wenn die Autorin etwa von Bundesländern schreibt. Indien besteht aber aus 28 Bundesstaaten, wovon wohl einige weitaus größer als Österreich sein dürften. Pondicherry ist allerdings kein Bundesstaat, sondern ein Unionsterritorium, wovon es acht auf ganz Indien verteilt gibt. Diese unterstehen im Gegensatz zu den Bundesstaaten, die von lokalen Regierungen regiert werden, direkt der Zentralregierung in New Delhi. https://de.wikipedia.org/wiki/Unionsterritorium

Schreibe einen Kommentar