Lena Hallbrucker
Als Englischlehrerin in einem indischen Dorf
Reportage
1. Teil:
Aufbruch / Schlaflose Nächte / Kleidung/ A Letter from India
Ein paar Monate nach meiner Reifeprüfung im Juni 2022 habe ich einen einjährigen freiwilligen Auslandseinsatz in Südostindien absolviert. Dieser Einsatz wurde von der Organisation „VOLONTARIAT bewegt“ (einer Initiative der Salesianer Don Boscos und Jugend eine Welt) in Wien koordiniert. Gemeinsam mit 16 anderen frisch gebackenen Maturantinnen und Maturanten aus sechs österreichischen Bundesländern wurde ich an drei Wochenenden und einer ganzen Woche für das Auslandsjahr vorbereitet, bevor es dann im August losging. Eine Kollegin und ich wurden einer Schule im indischen Bundesland Tamil Nadu zugewiesen – der Don Bosco Matriculation School Gedilam.
Ich sitze im Flugzeug. Es ist gigantisch, das größte, in dem ich je gesessen bin. Es ist dunkel, fast alle Passagiere schlafen. Das Abendessen, das von der Stewardess gebracht worden ist, hätte wohl den Geschmack der Passagiere treffen sollen – fast ausschließlich Inder.
Die wenigen europäischen Fluggäste sind entweder Geschäftsleute, abenteuerlustige Touristen oder Volontäre, so wie wir. Das weiß ich, weil eine Gruppe junger Erwachsener neben uns bei der Passkontrolle ausgefragt wurde. Volontäre?
Sind wir besserwisserische Neo-Kolonialisten oder können wir wirklich einen Beitrag zur politischen und sozialen Entwicklungsarbeit leisten, indem wir indische Schulkinder unterrichten? Und das ohne Lehrausbildung? Das Maturazeugnis noch ganz frisch?
Ich gehe davon aus, dass dieses vollkommen fremde Land mehr Auswirkung auf uns selbst haben wird als umgekehrt. Langsam erkenne ich ein gewaltiges Lichtermeer unter mir. Der Landeanflug beginnt.
Schlaflose Nächte
Aufgrund des an der Schule herrschenden Lehrermangels wurde ich als eigenständige Lehrerin für die Fächer Englisch und Social Science in mehreren Klassen des englischsprachigen Teils der Schule eingesetzt. In einer dieser Klassen war ich auch für die schriftlichen Prüfungen verantwortlich, die im indischen Bildungssystem anders ablaufen als im österreichischen: Lehrerinnen und Lehrer haben die Wahl zwischen standardisierten Tests, die von der Regierung gestellt werden (vergleichbar mit der österreichischen Zentralmatura), oder selbst erstellten, individuellen Tests. Pro Schuljahr werden vier schriftliche Überprüfungen pro Fach abgehalten.
Untergebracht waren meine Kollegin und ich in einem Zimmer im außerhalb der Schule gelegenen Mädcheninternat, das von drei salesianischen Nonnen geführt wird. Auf dieses Internat gehen jedes Jahr 60 – 80 Mädchen der Altersklassen 10 – 18 aus dem tamilsprachigen Teil der Schule. Diese Mädchen waren also keine Schülerinnen von mir.
Es ist mitten in der Nacht. Ich bin davon aufgewacht, dass der Ventilator den Geist aufgegeben hat, wodurch die gefühlte Temperatur im Raum rasant ansteigt. Vermutlich bin deshalb nicht nur ich aufgewacht, sondern auch die Mädchen, die Nonnen und meine Zimmergenossin.
Ein dünner Schweißfilm bildet sich auf meiner Haut. Draußen bellt ein Hund, Grillen zirpen – es ist eine sehr ruhige Nacht, ohne Trommeln oder Gesänge, die im Dorf regelmäßig mit einem Fest einhergehen.
Meine Gedanken schweifen unweigerlich zum morgigen Tag, im Kopf gehe ich den Tagesablauf durch und denke an die Klassen, die ich unterrichten werde. Noch eine Woche, dann schreibt die Achte den ersten Test unter meiner Betreuung.
Vom Direktor habe ich die Erlaubnis bekommen, eigene Fragen statt der standardisierten zu verwenden. Sofort ärgere ich mich wieder über das indische Bildungssystem. Falls ich je wieder hören sollte, dass sich ein österreichischer Schüler über unsere Schulen daheim beschwert, werde ich ihm den Hals umdrehen. Einen indischen Schüler hört man so viel seltener meckern, obwohl der viel mehr Grund dazu hätte – aus europäischer Sicht zumindest. Versunken in diese altbekannten Gedanken bekomme ich fast gar nicht mit, dass der Ventilator wieder angesprungen ist.
Kleidung
In Provinz-Gebieten wie Gedilam herrscht eine strikte Kleidungsordnung, nach der sich vor allem Frauen zu richten haben. Je nach Alter, Familienstand und Anlass gibt es bestimmte Kleidungsstücke, die man zu tragen hat. Natürlich unterscheidet sich das von Bundesland zu Bundesland (vor allem bei meiner Reise in den Norden habe ich bemerkt, wie sehr sich Kleidungsstile unterscheiden), aber zumindest für Tamil Nadu kann man folgende Regeln für Mädchen und Frauen zusammenfassen.
Schuluniform: Weiße Hose mit grauem, knielangem Kittel (die Farben unterscheiden sich allerdings von Schule zu Schule), die Haare in zwei seitlichen Zöpfen, die mit einem Band zu einer Art Schleife gebunden werden (diese Frisur ist an jeder Schule gleich, es unterscheidet sich höchstens die Farbe des Bandes).
Zu Hause/im Internat: Lang- oder kurzärmeliges T-Shirt, mindestens knielange Hosen, Leggings oder Röcke
Außer Haus: Lang- oder kurzärmelige, knielange Kittel, knöchellange Leggings oder Hosen, farblich passender Schal um die Schultern oder über den Kopf, geflochtene oder aufgesteckte Haare (generell tragen Inderinnen in Tamil Nadu ihre Haare in der Öffentlichkeit sehr selten offen)
Festliche Anlässe für Mädchen: Bodenlanger Rock mit passender Bluse und Schal, möglichst viel Schmuck
Verheiratete Frauen, Uniform am Arbeitsplatz oder festliche Anlässe für erwachsene Frauen: Sari (traditionelles indisches Kleid), geflochtene oder aufgesteckte Haare mit speziell gebundenen Jasmin-Blüten als Schmuck.
Noch nie habe ich erlebt, dass man sich so stark an einen Dresscode zu halten hat wie hier in Gedilam. Die strengsten Richterinnen sind allerdings die Mädchen, nicht die erwachsenen Frauen oder Nonnen – zumindest meiner Kollegin Lea und mir gegenüber (den Mädchen gegenüber sind die Nonnen sehr wohl streng).
Ich muss aber sagen, dass ich diese Kleiderregeln in der Schule gar nicht so schlecht finde. Für uns Lehrerinnen gibt es drei verschiedene Uniformen: Einen Sari für Montag, einen für Mittwoch und einen für Freitag. Dienstags und donnerstags müssen die lokalen Lehrerinnen auch einen Sari tragen, Lea und ich dürfen in Leggings, Kittel und Schal kommen (white priviledge).
In der Schule muss ich also nicht nachdenken, was ich anziehen will, was praktisch ist. Der Spaß hört beim Kleiderzwang in der Freizeit natürlich auf, dem Lea und ich weniger unterliegen. Allerdings erzählen einige Lehrerinnen immer wieder, dass ihre Ehemänner auf Saris in der Freizeit bestehen, obwohl sie selbst lieber Hosen tragen würden (Saris sind zwar sehr schön, aber unbequem und eng).
Außerdem würde im Nachbardorf über sie hergezogen, sollten sie dabei erwischt werden, bequemere Kleidung statt Saris zu tragen. Solche Erzählungen ähneln für mich den Schauergeschichten von unterdrückten Frauen aus vergangenen Jahrhunderten – hier sind sie noch brutale Realität.
A letter from India
Auf eigenen Wunsch hin unterrichtete ich fürs erste nur Schülerinnen und Schüler der höheren Klassen, also aus der 7. bis 10. Schulstufe. Die Schule beherbergt einen Kindergarten für Kinder ab 2 Jahren, eine Volksschule (1. bis 5. Schulstufe) und eine Mittelschule (6. bis 10. Schulstufe), insgesamt werden knapp 500 Mädchen und Jungen unterrichtet (die Klassen sind immer gemischt).
Im indischen Schulsystem ist es verpflichtend, zumindest die 8. Schulstufe abzuschließen. Das Äquivalent zur österreichischen Matura erhält man mit Abschluss der 12. Schulstufe, sodass man anschließend an einer Universität oder einem College studieren kann.
Die Kreide trifft sie an der Schulter, obwohl ich auf ihren Kopf gezielt hatte. Dieses plötzliche, gezielte Werfen von Kreide auf nervende Schüler während des Unterrichts habe ich mir von meinem Lieblingslehrer aus meiner eigenen Schulzeit abgeschaut und ist vielleicht nicht wirklich pädagogisch wertvoll, aber effektiv.
Mary Basilica verstummt und sieht mich gespielt betroffen an, ich kann ihr verschmitztes Lächeln, das sie zu unterdrücken versucht, trotzdem sehen. Ich gebe mir Mühe, nicht selbst zu lachen, und frage sie angestrengt ernst, ob es ein Problem gibt, bei dem ich ihr behilflich sein kann. No, Ma’am. Sorry, Ma’am. Dabei spricht sie das sorry aus wie saahrri.
Heute ist ein guter Tag, und die Stunde ist fast aus, also belasse ich es dabei. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass das Niveau in Englisch sehr niedrig ist und ich nur mit wenigen Schülerinnen und Schülern tatsächlich reden kann.
Ich werde zwar nie zur ganzen Klasse durchdringen können, aber in jeder Unterrichtsstunde erreiche ich vier bis sechs Schülerinnen und Schüler, die sich tatsächlich verbessern. Mary Basilica ist eine davon, aber sie ist frech und lässt keine Gelegenheit aus, mit ihren Freundinnen zu quatschen.
An die ganze Klasse gerichtet, frage ich: Alright, are there any more questions about the topic or the homework? Nehru, mein bester Schüler, fragt: When are the letters coming?, und mit dieser Frage hat er die Aufmerksamkeit all seiner Kollegen. Vor fast einem Monat haben sie alle einen Brief an einen unbekannten österreichischen Freund geschrieben, der ihnen auch antworten sollte.
Das Projekt habe ich gemeinsam mit zwei Englischlehrerinnen an Tiroler Gymnasien aufgezogen, und tatsächlich haben sie mir bereits mitgeteilt, dass die indischen Briefe bei ihnen eingetroffen sind.
Das Interesse der Schülerinnen und Schüler beider Seiten war überraschend groß, und es freut mich wirklich, dass sie den österreichischen Briefen so entgegenfiebern. Lächelnd versichere ich ihnen, dass es höchstens noch drei Wochen dauern wird.
Fortsetzung nächste Woche Donnerstag
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wirklich interessant, dieser einblick in eine doch sehr unterschiedliche schulwelt zu unserer – schön, dass die berichte weitergehen.