Literarische Korrespondenz:
Reinhold Knoll an Elias Schneitter
Betrifft:
Österreichs Geschichte und das Mehrheitswahlrecht
Sehr geehrter Herr Schneitter!
Sie rollen in Ihrem Kommentar jene Debatte nochmals auf, die Ende der 1960er Jahre in Österreich en vogue war. Mehr oder weniger ist die Tendenz jener Wahlreform übrig geblieben, die zugleich der Intention Kreiskys 1970 zur Minderheitsregierung verhalf.
In verfassungskonformer, aber geschickter Weise waren die Qualifikationen für die Vergabe der Restmandate verändert worden, was der FPÖ unter Friedrich Peter unerwartet 11 Mandate beschert hatte. Es war der weit mehr beachtete Wahlerfolg als die relative Mehrheit der SPÖ, die erstmals die ÖVP auf den zweiten Platz verwiesen hatte.
Dieses Abkommen zur Unterstützung des Kabinetts Kreisky I durch die FPÖ und das Entgegenkommen der SPÖ in der Mandatsverteilung war das sichtbare Zeichen des Misstrauens zwischen den bisherigen Partnern in der Großen Koalition.
Es ist zwar schwer verständlich, doch die Animosität Kreiskys gegenüber der Volkspartei war größer als die Distanz zu Friedrich Peter. Im Grunde hätte die beiden ein Abgrund trennen müssen. Hier der ehemalige Emigrant aus Schweden und dort das ehemalige Mitglied der berüchtigten SS.
Interessant war, dass nach Erhebungen Friedrich Peter stets nachweisen konnte, bei allfälligen Erschießungen oder Zernierung der jüdischen Ortsbevölkerung in Ghettos im Osten jeweils auf Urlaub oder im Krankenstand gewesen war. Damit hatte sich die Sache erledigt. Die unermüdliche Recherche von Simon Wiesenthal war Kreisky dermaßen auf die Nerven gegangen, dass er am liebsten einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss gegen Wiesenthal auch nach den Wahlen 1975 initiiert hätte.
Er musste befürchten, dass wegen solcher Erhebungen eine deutliche Einengung der Koalitionsvarianten eintreten könnte. Die Erringung der absoluten Mehrheit 1972 enthob ihn dieser peinlichen Entscheidung. Das war zuvor 1966 Josef Klaus gelungen, der sich für die Wahl 1970 auf seinem Werbeplakat als echter Österreicher präsentierte. Diese anzügliche Randbemerkung war zumindest damals ohne Wirkung geblieben. Das wäre heute freilich anders!
Nun haben Sie, Herr Schneitter, die britische Wahlmodalität ins Spiel gebracht. Hier muss man bedenken, dass das österreichische Regierungssystem immer das Proporz-Wahlrecht bevorzugte und die Sorge um ein eventuelles Verschwinden der Opposition durch ein Majorz-Wahlsystem bewusst verhinderte, eine Tatsache, die das Majorz-Wahlsystem grundsätzlich begünstigt. Denn noch immer war das Misstrauen von 1934 präsent, weshalb an eine grundsätzliche Änderung des Wahlrechts nicht zu denken war.
Sie, Herr Schneitter, sehen auch das Problem zurecht, dass zurzeit nur FPÖ und ÖVP repräsentativ im Parlament vertreten wären und somit zumindest seit Herbst ein Volkskanzler in Österreich regieren würde. Die Sorge der Ausschaltungen, der schnellen Veränderung der Rechtsordnung ist Motiv genug, beim Proporz-System zu bleiben.
Wenn Sie argumentieren, dass damit die langwierigen Verhandlungen um Koalitionen erspart blieben, so haben Sie zugleich selbst den Grund genannt, der ebenso keine Alternative wäre: die deutlich egomanische Charakterstruktur gewisser Politiker und die in der Wahlpropaganda genannten Ziele, die keinen Kompromiss erlauben. Zu achten ist allerdings Ihre Sorge, dass die Republik immer schwerer zu regieren sein wird, vor allem, wenn die Differenzen die Gemeinsamkeiten überwiegen.
Damit wird ein Punkt berührt, der sofort auf den Zustand der Republik aufmerksam macht. Ohne politischen Konsens ist dieses System nicht zu retten, mit oder ohne Wahlreform. Selbst eine Änderung des Wahlrechts würde die Schäden am politischen Bewusstsein des Landes nicht mehr reparieren können.
Österreich ist im politischen Abgleiten in den reaktionären Populismus sogar weiter fortgeschritten als Deutschland. Sieht man diverse landestypische Fernsehkanäle an, ist man über die aufdringliche Propaganda verwundert. So ist Österreich in Europa ein Spitzenreiter jener Mentalität, die einmal Helmut Qualtinger im Herrn Karl vorstellte oder aber Thomas Bernhard im Heldenplatz.
Damit ist das Problem, das Sie, Herr Schneitter, ängstigt, auf einer anderen Ebene zu betrachten, die allerdings im Bewusstsein in diesem Land wenig bewirkt. Hatte Robert Musil geschrieben, dass Österreich zum Hinterland des Burgtheaters verkommt, dann hätte man dort früher immer wieder die politische Problemlage betrachten können, was weder das Fernsehen noch die sozialen Medien zustande bringen.
Ob es in den politischen Eliten das bekannte Umdenken geben wird? Sie müssten fünf Mal täglich als Kontraindikation den Herrn Karl und den Heldenplatz ansehen, vielleicht gibt es dann Hoffnung.
Mit besten Grüßen Reinhold Knoll
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