Johannes Sprenger
Die Frisur als politisches Statement
Zur Premiere von „Hair“
am 16.11. am Tiroler Landestheater

Die entscheidende Motivation, eine Musical-Vorstellung zu besuchen, ist wohl der Wunsch, unterhalten zu werden. Um es gleich vorweg zu sagen: Dies ist den Verantwortlichen für diese Produktion auf allen Ebenen ganz vorzüglich gelungen.

Aber auch darüber hinaus – nämlich was die kulturelle, historische und politische Dimension dieses Stücks aus dem Jahr 1967 betrifft, ließ dieser Abend nichts zu wünschen übrig.

Felipe Ramos, Petra Alexandra Pippan, Salomé Ortiz, Pasquale de Filippo, Tamara Pascual, Alicia Kasenbacher, Mariyama Ebel, Madina Frey, Jendrik Sigwart, Steffi Regner, Savio David Byrczak, Kathrin Schreier (c) Birgit Gufler Felipe Ramos, Petra Alexandra Pippan, Salomé Ortiz, Pasquale de Filippo, Tamara Pascual, Alicia Kasenbacher, Mariyama Ebel, Madina Frey, Jendrik Sigwart, Steffi Regner, Savio David Byrczak, Kathrin Schreier
(c) Birgit Gufler

Der erste Eindruck ist das unaufdringliche Bühnenbild (Ayşe Gülsüm Ozel), das die Wüste von Nevada, die Stadt New York, ein Ausbildungslager oder ein Kriegsgebiet gerade noch andeutet. Ein Sonnenschirm mit einem Schild Sex on the Beach – Towel included $ 4,50 weist darauf hin, dass das kapitalistische Amerika es verstanden hat, auch seine Gegenkultur zu vermarkten – dies ist aber nicht die einzige Ambivalenz, mit der die Regie (Philipp Moschitz) auf kluge Weise umzugehen versteht, wie sich noch zeigen wird.

Die Protagonisten befinden sich großteils schon vor Beginn auf der Bühne und kommunizieren miteinander und mit dem Publikum – was den Happening-Charakter des 1. Aktes unterstreicht. Die Kostüme irritieren anfangs – machen sie doch eher den Eindruck, als kämen sie aus späteren Zeiten, wie Glamour, Disco oder Drag – auch ein veritabler Irokesen-Punk ist dabei. Doch auch das dient der Feststellung einer Art Kontinuität der Gegenkultur von der Hippie-Zeit bis heute.

Sobald das Stück mit Aquarius beginnt ist klar: Dieses Ensemble ist großartig, und zwar sowohl was das Tanzen (Choreographie: Sven Niemeyer), das Singen auf der Bühne und das Spielen im Orchestergraben (Musikalische Leitung: Hansjörg Sofka) betrifft. Die Stimmung unter den jungen Leuten, die es sich an Sex and Drugs and Rock’n Roll nicht fehlen lassen, ist ausgelassen und beschwingt, zuweilen auch zotig, aber das war eben so.

Einen ersten solistischen Höhepunkt bietet Jeanie (Petra Alexandra Pippan) mit Air (Welcome, sulfur dioxide / Hello, carbon monoxide…). Ein Weiterer folgt bald mit Frank Mills (I met a boy called Frank Mills / On September twelfth right here…) mit Crissy (Mariyama Ebel).

Langsam wird klarer, worum es dieser kleinen Gesellschaft, die einen erheblichen Teil der Jugend der damaligen westlichen Welt repräsentieren sollte, geht: Sowohl die Überwindung der Rassentrennung (I am black…), der Naturschutz (Nature first, Earh first…), Frieden (Es gibt keine Rechtfertigung für Krieg…), Freiheit, Spiritualität (Garten Eden, Manchester: I believe in God / And I believe that God / Believes in Claude / That’s me that’s me…) und Liebe, und zwar sowohl um deren platonische Erscheinungsform (Wie eine Blume…) als auch die erotische Liebe. Die schwerste Kritik betrifft den Krieg, den diese Generation des Vietnamkrieges aufs Entschiedenste ablehnte.

von links nach rechts: Savio David Byrczak, Felipe Ramos, Jendrik Sigwart, Mariyama Ebel, Alicia Kasenbacher, Tamara Pascual, Kathrin Schreier, Salomé Ortiz (c) Birgit Gufler von links nach rechts: Savio David Byrczak, Felipe Ramos, Jendrik Sigwart, Mariyama Ebel, Alicia Kasenbacher, Tamara Pascual, Kathrin Schreier, Salomé Ortiz
(c) Birgit Gufler

Wie naiv waren die Hippies?

Man hat den Hippies vorgeworfen, naiv gewesen zu sein, weltfremd oder unrealistisch. Sieht man sich ihre Forderungen an, unterscheiden sie sich nicht wesentlich vom Christentum, das ja auch Frieden, Liebe, Gemeinschaft aller Menschen predigt. Sie taten also nichts anderes, als das, was den spirituellen Überbau ihrer Gesellschaft ausmachte, ernst zu nehmen. Und dieser Aspekt macht Hair auch zu einer ernsthaften Angelegenheit, die über reine Unterhaltung hinausgeht.

Dass das Gebaren der Tribe, wie sie im Stück genannt werden, durchaus Ambivalenzen aufweist, entgeht dem Zuschauer, dank der wachen Regieführung Moschitz’ nicht – Berger, z.B., der Anführer der Gruppe (Jendrik Sigwart), hat durchaus gewisse autoritäre Züge, nicht nur wenn er dem neu hinzugekommenen Claude (Andrea de Majo) sagt, was er tun soll, oder wenn er ihn seine Freundin Sheila (Tamara Pascual) küssen lässt, sie dann aber, wenn er meint, dass es nun genug sei, wieder an sich zieht. Mit einem sehr einfachen, aber schlauen Trick gelingt es Moschitz, die Neuankömmlinge Margaret Mead und Hubert (Kristoffer Nowak und Derek Antoine Harrison), ein Älteres Ehepaar, mit jenem Teil des Publikums, der damals jung war und heute eben älter ist, zu verbinden. Man kann also sich selbst in seiner eigenen Jugend erkennen und sich gleichzeitig Fragen zur Gegenwart stellen.

Nach der fröhlichen Einleitung wird es bald ernst – am eindrücklichsten, als Sheila erklärt, sie wolle demonstrieren – es handelt sich um das historische Ereignis des Levitating the Pentagon (Das Pentagon zum Schweben bringen, mit über 100.000 Teilnehmern) am 21.10. 1967 – und Berger lieber Spaß haben will – …geh doch demonstrieren!. Sheila antwortet mit Berger, du bist krank… und einer großartigen Interpretation von Easy to Be Hard (How can people be so heartless…).

Nach der Pause folgen die düsteren Szenen der Musterung und des Krieges, in dem zur Tin Whistle gestorben wird. Und bei der großen Demonstration tragen die Mitglieder der Tribe Spiegel als Plakate, was an Lacan und sein Spiegelstadium erinnert, in dem sich das Subjekt mit dem eigenen Spiegelbild identifiziert, das ihm vom großen Anderen, also der Gesellschaft und ihrer Ordnung, zurückgeworfen wird.

Eine Szene, in der sich alle halb nackt ihrer Liebe zueinander hingeben, gerät nicht, wie sonst oft am Theater, zur Peinlichkeit, sondern bleibt authentisch. Und immer wieder vermitteln die Choreographie, ihre Ausführenden und die Musik eine mitreißende Art von Lebensfreude, die, trotz des Ernstes – stirbt doch Claude am Ende – überzeugend und positiv wirkt.

Kathrin Schreier, Filipe Ramos, Andrea de Majo, Steffi Regner, Jendrik Sigwart, Alicia Kasenbacher, Salomé Ortiz, Paul Knights, Madina Frey (c) Birgit Gufler Kathrin Schreier, Filipe Ramos, Andrea de Majo, Steffi Regner, Jendrik Sigwart, Alicia Kasenbacher, Salomé Ortiz, Paul Knights, Madina Frey
(c) Birgit Gufler

Fazit:

Vergessen Sie alles, was ich oben geschrieben habe. Wenn Sie einen unterhaltsamen, anregenden und berührenden Abend erleben wollen, sehen Sie sich diese Inszenierung an. Ernstes und Heiteres zusammenzubringen ist eine hohe Kunst, und diese wird von allen hier Beteiligten bestens beherrscht. Hier sind auf allen Ebenen Menschen am Werk, die ihre Sache verstehen.

Das Premierenpublikum, jung und alt, reagierte mit tosendem Applaus und Standing Ovations und bekam noch eine Zugabe. Solche gelungenen Produktionen sind dem Tiroler Landestheater noch viele zu wünschen.

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Johannes Sprenger

Johannes Sprenger, geb. 1958 in Innsbruck, ist Saxophonist, Komponist und Musikpädagoge, studierte Saxophon und Musiktheorie in München, Innsbruck, Graz und Wien. Zahlreiche Aufenthalte in Ländern des Spätstalinismus der 1980-er-Jahre und daraus resultierende persönliche und berufliche Beziehungen. Kompositionen für Kammerorchester, Kammerensembles, Bühnen- und Filmmusik, Lyrik und Kurzprosa. Von 1993 - 2011 als eine Hälfte von „AkkoSax“ zusammen mit Siggi Haider Theater-, Film-, Hörspiel- und CD-Produktionen, Österreichischer Weltmusikpreis 2008. Seit 2013 zusammen mit Klemens „Klex“ Wolf „FransenMusik“ - freie Improvisation, Elektronik, Musik und Literatur. Zusammenarbeit mit dem Tiroler Kammerorchester InnStrumenti, dem Orchester der Akademie St. Blasius und dem Tiroler Ensemble für Neue Musik (TENM). Letzte Veröffentlichungen „Aspekte des Nahostkonfliktes“ Edition BAES 2023, „Bad Relations“, LP der Rockband „Fennymore“ hs productions 1980/2021, mit Johannes Sprenger als Sänger, Texter, Saxophonist und Produzent.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Ronald Weinberger

    Da dem Autor – und offensichtlich dem Publikum – dieses Stück aus dem Jahr 1967 gefiel, ist ja alles paletti. Es schwingt beim 1958 geborenen Autor freilich auch unübersehbare Sympathie für die politische Weltsicht der seinerzeitigen jungen Generation mit. Und die Weltsicht dieser ach-so-friedensbewegten Generation habe ich ab 1967 an der Uni Wien, insbesondere aber dann ab 1973 in Heidelberg kennenlernen „dürfen“. Mir gellt heute noch das „Mao-Mao-Mao!“-Gebrüll der toleranzbefreiten und dauerdemonstrierenden Horden im Ohr. Habe darüber vor 3 Jahren im schoepfblog geschrieben:

    https://schoepfblog.at/ronald-weinberger-gefangene-raus-bullen-rein/

    Also ein unterhaltsames, erfreuendes, „Hair“: gut und schön. Nur sollte man die damaligen Realitäten nicht ausblenden, sprich: Man möge nicht diese Vergangenheit allzusehr romantisieren.

  2. Otto Riedling

    In der Originalfassung sind im Schlußakt alle Darsteller nackt.

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