Johannes Sprenger
Was haben Wolfgang Borchert, Götz Aly
und Susanne Bode gemeinsam?
Zur Kontinuität einer Mentalitätsgeschichte

Unlängst fand in der Stadtbühne Imst eine bemerkenswerte szenische Lesung statt. Michael Rudigier, Nevena Lukic-Berger, Michael Leitner und Felix Kremsner präsentierten Laternentraum, ein Hörbuch mit Texten von Wolfgang Borchert, produziert vom Künstlerkollektiv Kunstvolk.

Bemerkenswert schon deshalb, weil sich Künstler der mittleren und jüngeren Generation heute einem Dichter zuwenden, der gerade einmal 26 Jahre alt wurde und der Generation ihrer Großeltern angehört.

Und hier sind wir schon mitten im Thema: Die tragische Biographie Wolfgang Borcherts, der, 1921 geboren, bereits mit neunzehn Jahren von der Gestapo verhaftet und ein Jahr später zum Kriegsdienst einberufen wurde. Was er dort erlebte, steht exemplarisch für das, was seiner Generation geschah: Zufällig, passiv und ohne eigene Schuld gerieten sie in schreckliche Ereignisse hinein und schwiegen. (Götz Aly, Unser Kampf 1968, S. Fischer 2008). Nur dass Borchert eben nicht schwieg, sondern schon während des Kriegsdienstes die Nazi-Diktatur kritisierte und später das Erlebte mit einer erschütternden Genauigkeit beschrieb.

Der hier angedeutete generationale Themenkomplex ist heute keineswegs als historisch anzusehen, sind seine sozialen, politischen und psychologischen Aspekte doch bis in unsere Zeit wirksam, man denke nur an die gegenwärtigen Kriege und die dazu eingenommenen Haltungen, etwa die Infragestellung der Fundamente der Republik oder der Europäischen Union als Manifestationen des Neubeginns nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs.

Das Besondere an dem Abend war, dass die beteiligten Personen sich aller relevanten Aspekte des Borchert’schen Werkes annahmen: Des sprachlich-künstlerischen, des politisch-sozialen und des psychologisch-emotionalen, ohne den einen vor oder hinter den anderen zu stellen.

Michael A. Leitner als Moderator erfüllte gerade nicht die Mittlerrolle zwischen Bühne und Publikum, sondern blieb stets ein Teil des Ensembles, obgleich seine Texte durchaus den biographischen Rahmen bildeten, aus dem Nevena Lukic-Berger und Michael Rudigier mit den Stimmen Borcherts heraustraten, und von Felix Kremsner zwar nicht durchgehend, aber umso intensiver, mit der Gitarre begleitet wurden.

Dieses dreifache Zusammenwirken: Moderationstext – Originaltext – Musik gab dem Abend Geschlossenheit und Stringenz, atmosphärische und emotionale Dichte und ästhetische Überzeugungskraft.

Borchert blieb nur wenig Zeit für sein literarisches Werk. Die Dramaturgie des Abends trug der Gedrängtheit und dem Mut dieses kurzen Lebens, das sich nicht in Selbstmitleid oder beleidigtem Hass erging, auf subtile und anspruchsvolle Art Rechnung, bis hin zu einem Moment gegen Schluss, während des Textes Generation ohne Abschied, der beginnt mit Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist Abgrund, und bei dem man tatsächlich den Boden unter den Füßen zu verlieren glaubt, wenn es heißt Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch mit Mensch – und dann stehlen wir uns davon.

Nicht erst hier zeigt sich auch die Janusköpfigkeit der Musik, aller Musik, die die Wirkung des Textes auf eine Weise verstärkt, dass wir ihm einerseits nicht entkommen können, die uns andererseits aber vor ihm rettet, indem sie uns einen Resonanzraum bietet, in dem wir uns, trotz des Schreckens und der Trauer, noch immer orientieren können. Felix Kremsner ging den ganzen Abend hindurch mit dieser Eigenschaft der Musik äußerst feinfühlig und sorgfältig um.

Am Ende dieses letzten Abschnitts sagt Borchert: Wir sind eine Generation ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre – so sind wir eine Generation ohne Abschied geworden und ohne Heimkehr. Aber wir sind eine Generation der Ankunft. […] Vielleicht sind wir voller Ankunft zu einem neuen Lieben, zu einem neuen Lachen, zu einem neuen Gott. Wir sind eine Generation ohne Abschied, aber wir wissen, daß alle Ankunft uns gehört. 

Der Optimismus, der sich hier vorsichtig artikuliert, und nach dem Vielleicht sogar zu einer Art Gewissheit findet, ist, anhand dessen, was seither geschah, zu untersuchen, aber auch, anhand dessen, was wir uns erhoffen, neu zu definieren, etwa nach der Auffassung Hannah Arendts, dass Menschen über die Mitgift des Neuanfangs verfügen.

Worin die Probleme dieser  Untersuchung bestehen, erläutern, u.a., wie oben erwähnt, Götz Aly, oder Sabine Bode (Die vergessene Generation, Klett-Cotta 2004) in wohl nicht zufälliger Übereinstimmung. Aly erzählt die Geschichte seiner Generation, der Achtundsechziger, an deren Aufstand er selbst teilgenommen hat und von deren Ideologie und Methoden er sich weitgehend distanzierte, ohne sich selbst untreu zu werden – einer Generation, deren Elterngeneration sich mit jener Borcherts überschneidet. 

Bode beschreibt die Geschichte der Kriegskinder, der zwischen 1930 und 1945 Geborenen (denen übrigens auch Helmut Kohl angehörte, der dies als Gnade der späten Geburt bezeichnete, im Hinblick darauf, zu jung gewesen zu sein, um zum Verbrecher zu werden.) Für diese Kinder war es aber auch eine Ungnade – denn abgesehen von der Angst und der Zerstörung wuchsen sie in einer emotionalen Vaterlosigkeit auf, denn selbst wenn die Väter Krieg und Gefangenschaft physisch überlebt hatten, konnte die väterliche Kompetenz aufgrund der erlittenen psychischen Traumatisierungen so in Mitleidenschaft gezogen sein, dass von einer lebendigen und kindgerechten Vaterrolle nicht die Rede war. (Peter Heinl, zitiert nach Bode). Analog dazu spricht Aly von emotional frierenden Kindern.

Dass die Traumata unserer Vorgängergenerationen heute noch relevant sind, lässt sich an vielen Beispielen belegen, etwa, wenn Aly den Duktus und die Wortwahl von Nazistudenten und Achtundsechzigern thematisiert und Richard Löwenthal zitiert, der sagt, dass seine nationalistisch gesonnenen Altersgenossen am Ende der Weimarer Republik von einem ähnlich wirren, aber ehrlichen Gemisch von Verzweiflung und idealistischer Hoffnung beseelt waren wie die ‚revolutionären‘ Studenten von heute. Oder Ulrike Meinhof: Das Kollektiv ist die Gruppe, die als Gruppe denkt, fühlt und handelt. Oder dieselbe: Der Antisemitismus war seinem Wesen nach antikapialistisch. Folgerichtig sagt heute Alice Weidel: Hitler war ein Linker.

Bode wiederum belegt, dass das Nazi-Erziehungsbuch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von Johanna Haarer bis 1987 (!) in etwas kaschierter Form verlegt und verbreitet war. Wer also nach weiteren Belegen für die Kontinuitäten zwischen den Generationen sucht – vor allem, wenn diese nicht offen miteinander sprechen – der betrachte die eigene Familiengeschichte – oder sehe sich das Vokabular gegenwärtiger Bewegungen und ihrer Akteure an.

Auf Wolfgang Borchert zurückzugreifen stellt also eine Aufforderung zum Nachdenken über die und zur Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten unserer Mentalitäts- und Sozialgeschichte dar. Die engagierten Künstler, die an diesem Projekt beteiligt sind, haben uns ein ernstes Geschenk gemacht – bis hin zur Gestaltung des Hörbuchs durch Gabriel Anker und Sara Latta, mit einem Portrait Borcherts und einem Laternentraum, dessen Licht, das Borchert immerhin nach seinem Tod sein wollte, uns in der Dunkelheit wenigstens das Lesen ermöglicht.


Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Johannes Sprenger

Johannes Sprenger, geb. 1958 in Innsbruck, ist Saxophonist, Komponist und Musikpädagoge, studierte Saxophon und Musiktheorie in München, Innsbruck, Graz und Wien. Zahlreiche Aufenthalte in Ländern des Spätstalinismus der 1980-er-Jahre und daraus resultierende persönliche und berufliche Beziehungen. Kompositionen für Kammerorchester, Kammerensembles, Bühnen- und Filmmusik, Lyrik und Kurzprosa. Von 1993 - 2011 als eine Hälfte von „AkkoSax“ zusammen mit Siggi Haider Theater-, Film-, Hörspiel- und CD-Produktionen, Österreichischer Weltmusikpreis 2008. Seit 2013 zusammen mit Klemens „Klex“ Wolf „FransenMusik“ - freie Improvisation, Elektronik, Musik und Literatur. Zusammenarbeit mit dem Tiroler Kammerorchester InnStrumenti, dem Orchester der Akademie St. Blasius und dem Tiroler Ensemble für Neue Musik (TENM). Letzte Veröffentlichungen „Aspekte des Nahostkonfliktes“ Edition BAES 2023, „Bad Relations“, LP der Rockband „Fennymore“ hs productions 1980/2021, mit Johannes Sprenger als Sänger, Texter, Saxophonist und Produzent.

Schreibe einen Kommentar