Janus Zeitstein
Die Brücke von Morgen
Eine Utopie für Israel / Palästina

Der Balkon des kleinen Hotels in Jaffa maß kaum drei Quadratmeter, und doch schien Samuel Goldstein von hier aus die ganze Welt zu überblicken. Die Herbstsonne legte goldenes Licht auf das Meer, über die weißen Häuser der Altstadt, auf die Skyline von Tel Aviv und in der Ferne bis nach Gaza. 

Samuel war vierundsiebzig, Wiener Jude, Sozialdemokrat, Überlebender in einer Familiengeschichte voller Flucht und Brüche. Nicht aus religiösen Gründen war er gekommen, nicht als Zionist. Es war eine Frage, die ihn seit Jahrzehnten quälte: ob es möglich sei, dass Menschen lernen, friedlich miteinander zu leben.

In der Nacht träumte er. Die Welt stand in Flammen, kein Wasser löschte sie. Schreie, Sand, Blut, 7. Oktober 2023. Ein Traum von Vernichtung, eingeschrieben in das Gedächtnis der Menschheit. Er erwachte schweißgebadet, das Herz voller Asche. Auf seinen Knien lag ein altes Buch: Reden Bruno Kreiskys 1970–1983. Samuel hatte es sein Leben lang als Kompass mitgeführt. Man muss an die Vernunft glauben, auch wenn die Vernunft schwach ist, murmelte er. Doch die Vernunft war alles, was blieb.

Er holte ein leeres Notizbuch hervor und begann zu schreiben. Nicht über das, was war, sondern über das, was sein könnte: eine Brücke über der Asche.

Jerusalem, 2035
Layla Mansour stieg an der Davidstraße aus dem Bus. Ihr Ausweis trug die Worte Mitglied des Parlaments – عضو البرلمان – Member of Parliament. Die Stadt war dreisprachig geworden; Hebräisch, Arabisch, Englisch mischten sich wie selbstverständlich auf den Straßen. Neben ihr tauchte Avraham Rosen auf, orthodoxer Jude, Kollege im Infrastrukturkomitee. Die Wasserleitungen für Gaza warten, sagte er lachend, während sie gemeinsam auf das neue Parlament zugingen.

Das Haus der Kulturen, Herzstück von Al-Qantara, war Symbol einer neuen Zeit. Erstmals arbeiteten Israelis und Palästinenser als Abgeordnete desselben Staates zusammen. An diesem Morgen stand die Abstimmung über die Bildungsreform bevor: gemeinsame Schulen, zweisprachige Lehrbücher, eine Geschichte mit zwei Perspektiven.

Layla sprach leise von ihrer Großmutter, die als Flüchtling nie Lehrerin hatte werden können. Avraham erinnerte sich an seinen Vater, der Checkpoints gehasst hatte, weil sie Menschen Würde raubten. Nun standen beide in demselben Saal, stimmten für denselben Beschluss. Wir sind zwei Stränge einer Geschichte, sagte Layla am Rednerpult, doch wir teilen ein Morgen. Die Reform wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen.

Auf der Besuchertribüne saß Samuel. Er hörte die Worte, spürte den Atem der Geschichte und schrieb in sein Notizbuch: Wenn die Welt in Asche liegt, muss man lernen, die Asche zu säen.

Der Hafen von Gaza
Amjad Zahra, alter Fischer, blickte vom Balkon auf die neue Hafenanlage. Wo früher Zäune und Ruinen standen, ragten nun Containerbrücken in den Himmel, Schiffe aus aller Welt liefen ein. Yalla, Opa!, rief seine Enkelin Nour. Für sie war es selbstverständlich, Hebräisch zu sprechen, Freunde in Tel Aviv zu haben, ohne Checkpoints nach Jerusalem zu fahren.

CNN-Journalisten baten Amjad um ein Interview. Früher war Gaza ein Käfig, sagte er. Heute ist es ein Tor zur Welt. Dasselbe Meer, dieselben Menschen – nur die Hoffnung ist neu.

Nour führte Delegationen durch die Fabrikhallen: Kooperativen, in denen Palästinenser, Israelis und Gastarbeiter gemeinsam arbeiteten. Das Geheimnis ist Bildung, erklärte sie. Wir haben gelernt, dass Zusammenarbeit mehr schafft als Trennung.

Am Abend saß die Familie bei gegrilltem Fisch. Manchmal fürchte ich, es ist ein Traum, sagte Fatima, Amjads Frau. Nein, widersprach er, es ist Wirklichkeit. Unsere Enkel werden nicht wissen, wie es war, eingesperrt zu sein. Draußen leuchtete Gaza in der Nacht, nicht mehr wie ein Gefängnis, sondern wie eine offene Stadt am Meer.

Die Brücke des Wassers
In der Negev-Wüste rauschte die Entsalzungsanlage Mayim Shalom. Täglich verwandelte sie hunderttausend Kubikmeter Salzwasser in Trinkwasser – nicht Eigentum eines Konzerns, sondern Gemeingut aller Bürger Al-Qantaras. Dr. Sarah Goldberg, Ingenieurin, und ihr Kollege Ahmad Khalidi führten Delegationen aus Kalifornien über das Gelände. Wasser war früher eine Waffe, sagte Ahmad. Heute ist es eine Brücke.

Sie erinnerten sich an Skepsis und Misstrauen, an die Jahre des Mangels. Aber kleine Gesten hatten Vertrauen geschaffen: eine israelische Ingenieurin, die Arabisch lernte, ein palästinensischer Techniker, der seinen Sohn nach Ben-Gurion benannte. Nun standen Schulklassen vor den Bassins und lernten: Jeder Mensch habe ein Recht auf Wasser, hundert Liter am Tag – genug für ein Leben in Würde.

Das wahre Wunder, murmelte Ahmad, ist nicht die Technik, sondern dass wir gelernt haben zu teilen.

Das Haus der Versöhnung
Ramallah, ein gläserner Bau zwischen Olivenbäumen. Hier arbeitete Dr. Rachel Stern mit ihrer Wahrheitskommission. Opfer und Täter erzählten einander ihre Geschichten.

An diesem Tag begegneten sich Fatima Qasemi, die ihren Sohn bei einem Anschlag verloren hatte, und Uri Goldmann, der Soldat am Checkpoint. Fatima sprach von Hass und Rache, Uri von Schuld und Albträumen. Schließlich reichte sie ihm das Foto ihres Sohnes. Sehen Sie ihn an. Er hätte gesagt: dieser Soldat ist auch nur ein Mensch. Uri weinte. Alle unsere Kinder sehen sich ähnlich, antwortete Fatima. Darum dürfen wir sie nicht mehr gegeneinander hetzen.

Rachel wusste: Vergebung war nicht immer möglich. Doch manchmal genügte es, wenn Menschen aufhörten, einander als Feinde zu sehen.

Die Jugend
Haifa, ein Fußballplatz. Yusuf Mansour, palästinensischer Torwart, und David Ben-Ari, israelischer Stürmer, spielten für die Al-Qantara Lions. Das Team bestand aus Jugendlichen aller Herkunft. In zwei Wochen würden sie bei der Junioren-WM in Brasilien antreten – das erste Mal, dass Al-Qantara auf internationalem Parkett auftrat.

Früher hätten wir gegeneinander spielen müssen, sagte Yusuf. David schüttelte den Kopf. Unvorstellbar. Du bist mein bester Freund.
Abends trafen sie sich im Jugendzentrum: Musiker, Programmierer, Aktivisten. Sie sprachen über Frieden, Umwelt, Zukunft. Wir sind keine Helden, sagte Sarah Khoury, Mitspielerin. Wir sind einfach normal.

In São Paulo sang die Mannschaft die Hymne Al-Qantaras – eine Melodie mit arabischen und hebräischen Zeilen. Sie spielten 2:2 gegen Brasilien, ein Unentschieden, das wie ein Sieg gefeiert wurde. Auf der Tribüne flatterten Fahnen in Blau, Grün und Weiß. Wir kämpfen für unsere Zukunft, sagte David. Und für die unserer Geschwister.

Die Stimme Kreiskys
In Wien saß Samuel wieder an seinem Schreibtisch. Er las seine alten Notizen aus Jaffa, erinnerte sich an den Traum vom 7. Oktober, an Kreiskys Worte. Nun schrieb er nicht mehr einen großen Roman, sondern eine Geschichte von Menschen, die Brücken gebaut hatten: Layla im Parlament, Amjad im Hafen, Sarah und Ahmad am Wasser, Rachel in Ramallah, Yusuf und David auf dem Spielfeld.

Die Vernunft ist schwach, notierte er, weil sie gegen die Macht der Angst kämpfen muss. Aber sie ist stärker, weil sie die einzige Kraft ist, die Menschen vereinen kann.

Als ihn eine Einladung nach Jerusalem erreichte – eine Konferenz über Friedensbildung –, zögerte er nicht. In hohem Alter wollte er noch einmal dorthin zurück, wo er begonnen hatte zu schreiben. Nicht um Antworten zu geben, sondern um Zeugnis abzulegen: dass selbst inmitten von Asche, Wasser, Schmerz und Erinnerung eine Brücke in die Zukunft möglich war.

Gekürzte Fassung, Vollversion auf www.januszeitstein.com unter „Aktuelles“

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Janus Zeitstein

Janus Zeitstein (Pseudonym), Mitte der 50iger Jahre geboren in Hall in Tirol, Buchhändler im In- und Ausland. Inneneinrichter. Schule für Dichtung. Seit 1990 literarische Beiträge (Stuhlprobe, Dazwischen, Morgenstean, Etcetera, Dum, Edition Sonnberg, Künstlerhaus Wien), 2001 Uraufführung „Knoblauch & Weihrauch“ (eine Liturgie des Geldes). Mitglied der Pataphysischen Gesellschaft, Beiträge für Radio Orange und Freiradio Innsbruck. 2024 „Morphopoetische Rhapsodie“ TAK Innsbruck. Seit über 30 Jahren lebhaft in Wien. https://www.januszeitstein.com/

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