Helmuth Schönauer
Verschollen zu sein ist eine Kunst!
Stichpunkt
Als am 11. August 2024 der Dichter Bodo Hell auf seiner Alm nicht ans Handy geht, bricht im Tal bei seinen Literaturfreunden Unruhe aus. Im Herbst sollen wieder Ehrungen seines Werkes stattfinden und auch die Peformance-Tour des Achtzigjährigen soll im Detail abgestimmt werden.
Bodo Hell jedoch, wie immer seit vierzig Jahren um diese Zeit auf seiner Dachstein-Alm, ist auch bei einer Nachschau unauffindbar und löst eine Suchaktion aus. Ein Monat später wird er von seinem Verlag als verschollen erklärt.
Bodo Hell gilt als Rundum-Dichter, der von seinen Sinnesorganen ausgehend die Welt in literarischer, visueller und musikalischer Form zu Kunst transformiert. Mit seinen akustischen Darbietungen ist er ein Vorläufer der Slam-Poetry, wobei unter Poetry hier tatsächlich Poesie gemeint ist. In der Inszenierung seines Lebensstils als Kunst-Senner gleicht er den Inszenierungen der Friederike Mayröcker, die sich selbst als Messie-Wohnung verwirklicht hat. Mit ihr hat Bodo Hell viele Projekte gestaltet.
In seinem Umgang mit der schreibenden Zunft treten seine Eigenschaften als humorvoller Anchorman des inszenierten Literaturkosmos in den Vordergrund. Es gibt niemanden, der nicht eine gute Erinnerung hätte, wenn der Name Bodo Hell fällt.
Was immer in den Augusttagen am Dachstein geschehen ist, der Verlag von Bodo Hell hat ihm den Ehrentitel eines Verschollenen verliehen.
Seit Franz Kafkas Roman Der Verschollene versteht man darunter einen Helden, der selbst nicht weiß, ob er jemandem abgeht oder nicht. Im Roman wird der 17-jährige Karl Roßmann nach einer Affäre mit dem Dienstmädchen nach Amerika verschifft und verschwindet als Fragment. Die letzten erhaltenen Teile berichten vom Naturtheater in Oklahoma, in dem er anzuheuern versucht. Das Theater scheitert aber an dem Fakt, dass alle als Schauspieler glänzen wollen und niemand Bühnenarbeiter sein will. So endet bei Kafka die Kunst in sich selbst und ihre Protagonisten werden als verschollen erklärt.
In Tirol wäre ein Schicksal des Bodo Hell undenkbar, weil wir keinen Verlag haben, der sich um seine Dichter kümmert.
Aus dem ehemals führenden Verlag Haymon sind schon zu ihren Lebzeiten fast alle Dichter entfernt worden, nachdem ihre mitgebrachten Subventionen aufgebraucht waren. Wer im Land sollte denn auch eine Suchaktion auslösen oder einen Dichter für vermisst oder verschollen erklären, wenn dieser nicht ans Handy geht?
Und tatsächlich sterben die Tiroler Dichter fast alle zurückgezogen und vom Literaturbetrieb unbemerkt still vor sich hin.
Heuer sind etwa Egon A. Prantl, Winfried Werner Linde oder Viktor Haid still als Fade-out verschieden. Lediglich dem Auftritt Viktor Haids als Herr Reindl im ORF ist es zu verdanken, dass er dort bei der Sichtung des Archivs jemandem abgegangen ist, der daraufhin einen entsprechenden Nachruf verfasst hat.
Literaturfreunde werden Haids Grotesken Herr Reindl zusammen mit Prantls Roman Frauenmord (1989) und Lindes Dokumentation Walder Saga (2014) als durchaus prägnante Formen Tirolerischen Schreibens in Erinnerung behalten.
Den Verschollenen, Abgetretenen und Zurückgezogenen sei deshalb wieder einmal ein Trost nachgerufen: Ihr seid alle an der Unibibliothek Innsbruck archiviert und gerettet, getreu dem Motto: In der Literatur geht niemand verloren!
Die Anhänger von Bodo Hell sind übrigens der Meinung, dass Verschollen-Sein eine eigene Kunstform ist, in die der Künstler sich selbst rettet, wenn ihn der Literaturbetrieb vergisst.
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