Helmuth Schönauer
Seufzen und wegwischen
Wie ein politisierender Pensionistenkreis mit Nachrichten umgeht.
Stichpunkt

Seit einem halben Jahr ist im Baguette am Innsbrucker Westend die Aufregung groß. Zufällig anwesende Pensionisten hocken sich alle vierzehn Tage zum Kaffee zusammen und behaupten, alles über die Weltlage zu wissen. Zuerst sind es nur drei bis fünf Leute, die Kaffee umrühren und zu diskutieren beginnen, am Schluss stehen zehn Leute um das Tischchen, an welchem unverblümt über interessante Nachrichten der letzten Zeit geredet wird.

Alle gehen übrigens beim Nachrichten-Lesen am Handy nach der gleichen Methode vor:
1. Trigger – das muss ich lesen!
2. Erleichterung – Gottseidank spielt die Nachricht weit weg von uns!
3. Zweifel – wenn das bei uns passiert, wäre ich gerüstet?
4. Seufzen und wegwischen…

Beim Treffen, das bald einmal den schlauen Titel Politische Bildung für Rentner zugeteilt bekommt, werden Nachrichten herausgepickt, die mit dem ehemaligen Berufsleben der Ruheständler zu tun haben.

Neulich haben drei ehemalige Experten ihrer Berufssparte nicht gerade erfreuliche Statements beim Kipferl mit Kaffee abgegeben:


Fall eins

Einen früheren TIWAGLER beunruhigen die Nachrichten aus der Ukraine, wo ja ähnlich der Pager-Aktion im Libanon aus heiterem Himmel Dinge explodieren und Menschen und Infrastruktur zerstören.

Die Ukraine freilich kämpft schlau und beharrlich mit dem ferngesteuerten Feind. Seit ihr Stromnetz quasi flächendeckend zerstört ist, rüstet man sich für den Winter mit einer dezentralen Strategie.
Was bei uns aus Gründen der Resilienz schon längst gefordert wird, nämlich dezentrale Netze statt eines anfälligen Strom-Verbunds, wird in der Ukraine offensichtlich in Höchstgeschwindigkeit realisiert.
Die dezentrale Versorgung mit Energie hilft nicht nur, den Winter zu überstehen, sondern dient längerfristig als Erfolgsprodukt beim weltweiten Umbau der Energieversorgungen.

Diese Nachricht werde freilich von der TIWAG nicht gern gehört, zeigt sie doch deren Strategie mit Großkraftwerken und Giga-Leitungen als Irrweg auf. Der Ruheständler prophezeit, dass wir früher oder später die dezentrale Form der Ukraine auch bei uns einführen müssen, wollen wir uns einen Blackout ersparen, der wie das Amen im Gebet kommen wird.


Fall zwei

Der gebürtige Zillertaler neben ihm kommt jede Woche völlig fertig aus seiner Geburtsstätte zurück, wenn er marode Verwandte besuchen will. Stau, Wut und Resignation plagen ihn, wenn er trotz aller Umgehungen und Einheimischen-Tricks nicht mehr zu seinem Zielort durchkommt.

Und am meisten fertig macht ihn die Tatsache, dass das die schlauen Zillertaler alles selbst so dumm eingefädelt haben. Niemand hat ihnen befohlen, ständig das Tal als Paradies zu vermarkten, damit möglichst die ganze Welt kommt.
Ihn bedrücken Nachrichten über Hotel-Ausbauten, die einen Slang von schlechtem Gewissen mit sich bringen.
Als Beispiel zeigt er einen Screenshot von Mein Bezirk.

Auch die Schultz Gruppe wird im Herbst 2025 mit einem Hotelprojekt in der Gemeinde Uderns starten. Der Bau unter dem Titel „the green“ wird auf einem Grundstück in der Nähe der bestehenden Sportresidenz (Golfhotel) bzw. der Tankstelle Oil entstehen. „Das Projekt der Schultz Gruppe ist bereits fertig verhandelt und der Baustart kann jederzeit erfolgen. Ich möchte betonen, dass das kein Chaletdorf wird, sondern es sich um dreistöckige Gebäude handelt. Das gesamte Projekt ist mit einer Tiefgarage unterkellert“, so Bürgermeister Josef Bucher.

Der Zillertaler im Ruhestand weiß noch nicht, was ihn mehr ärgert: der weitere Ausbau von Hotels oder der unselige Ton der Verharmlosung, mit der das alles besprochen wird.


Fall drei

Ein technischer Zeichner, der seinen Stift schon abgelegt hat, wird bestürmt zu sagen, ob die Überflutung der Unterinntal-Trasse auch bei uns so überraschend wäre wie jene im Tullnerfeld in Niederösterreich, wo jetzt ein halbes Jahr kein Zug mehr fährt.

Der Zeichner meint: Selbstverständlich! Diese sogenannten neuen Trassen wurden alle im vorigen Jahrhundert mit den Klimadaten des vorvorigen Jahrhunderts geplant. Er wagt eine generell düstere Prognose: Wenn wir mit den heutigen Daten die Bebauungspläne ansehen, so liegt eigentlich das halbe Land in der Roten Zone!

Nach diesen aufwühlenden Nachrichten endet alles mit Seufzen und Wegwischen, während noch eine Runde Kaffee bestellt wird. Die Boden-Versiegelung hat auch ihr Gutes, – wir können immer und überall Kaffee bestellen, solange keine Überschwemmung ist.

Vom Archivar wird noch ein Schlusssatz erwartet, weil er als ehemaliger Angehöriger der Unibibliothek alles weiß und für das Absurde zuständig ist: Der Sinn des Lebens ist das Archiv. Wir müssen darauf achten, dass wir der nächsten Generation gute Geschichten hinterlassen. Alles andere wird sie nicht interessieren!

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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