Helmuth Schönauer
Ewige Kindheit mit Kuh
Stichpunkt
Die ersten Kindheitsbilder sind oft mit einer Kuh geschmückt. Persönlich-naive Würdigung des Ja-Natürlich-Meisters und Kuh-Autors Werner Lampert (1946-2025).
1.
Wie im Film stehe ich als Dreijähriger mit meinem Großvater am Thiersee. Er hat sein Haus hinten am Hügel und macht mit mir einen Spaziergang zum See. Hier haben sie gerade ‚Das doppelte Lottchen‘ nach Erich Kästner gedreht, sagt er, sehr angetan von der authentischen Erinnerung. Der See ist menschenleer und unverbaut, genau wie im Film aus dem Jahr 1950, den ich später in schwarz/weiß sehen darf.
Immer, wenn ich die Kindheit in Worte und Bilder fassen will, schaue ich mir eine Sequenz vom Film-See an und fühle mich an den Spaziergang mit dem Großvater erinnert, zumal wir auf dem Nachhauseweg die zwei Kühe heimtrieben, die zum Großvaterhaus gehörten.
2.
Wahrscheinlich jeder Tiroler hat so eine Kuh-Ikone im Kopf sitzen, die für einige Augenblicke das vollkommene Glück beschreibt. Wiese mit Kuh – das ist Tirol. Und längst ist dieses Kuh-Motiv zur Grundlackierung für das Tirol-Bild geworden, das vor allem im Tourismus jahrzehntelang ausgerollt worden ist.
Freilich erweist sich dieser stilisierte Ausschnitt aus einem Kinderbuch manchmal als Fluch für die Gegenwart.
Wenn nämlich ein Stück Wiese zum Gewerbegebiet erklärt, eine Geflügelfarm auf dem Hügel vor dem Dorf errichtet oder gar ein Hochtal für den Strom der KI-Fabriken geflutet werden soll, treten sofort Bürgerinitiativen auf den Plan, die mit der unversehrten Kuh-Wiese an die unversehrte Kindheit anknüpfen, die in jedem von uns schlummert.
Die initiierten Volksbefragungen gehen dementsprechend knapp aus, wobei sich manchmal die Idylle und ein andermal die Wirtschaft durchsetzt. Im Zeitalter von Tiktok haben dabei die grünen Kuhwiesen einen gewissen Vorteil, weil sie dem schlichten Gemüt der Kindheit näher treten als die Wirtschaft mit ihrer Betoniertrommel. Für eine halbwegs ausgewogene Analyse der Zustände in Tirol sind freilich sowohl die Romantisierung als auch die Verherrlichung der Prosperität nicht hilfreich.
Folglich haben Volksbefragungen in Tirol wenig Sinn, weil es kaum eine kritische Auseinandersetzung mit der Realität gibt, zumal die Medien ORF-Tirol und TT ausschließlich im Dienste des Tourismus und seiner irritierenden Heilsversprechungen stehen.
3.
Da die Kindheit offensichtlich im Alter wieder virulent wird, indem die Pensionisten kindisch, romantisch oder einfach milde werden, sollte man sich als Künstler überlegen, ob man den Kuh-Bildern nicht altersgemäße Glücksbilder gegenüberstellen sollte. Das ist ja eine der Aufgaben der Kunst. Beispielsweise könnte man der Idylle jeweils die Gegenidylle beifügen.
Als ich vom menschenleeren See ins Großvaterhaus zurückkehrte, musste ich aufs Klo. Die Angst vor dem schwarzen Loch im Plumpsklo hat mir regelmäßig mein Geschäft verunmöglicht. Wenn ich mich sorgfältig erinnere, hat das kindliche Bild von See, Wiese und Kühen einen schweren Kratzer, indem ich die Bauchschmerzen und Stuhlverhaltung heute noch aufsteigen spüre, wenn ich nicht rechtzeitig aus der Übung aussteige.
Auf Tirol bezogen entwickelt etwa Lois Hechenblaikner solche Gegenidyllen, indem er jedem schönen Bild eines von der Hinterseite entgegenstellt. Diese Methode von hochgezüchtetem Idealbild und seiner bewussten Dekonstruktion lässt sich auf beinahe alles anwenden, was uns herausfordert.
Wenn ich als alter Mensch durch die ewige Kindheit marschiere, indem ich den Mitterweg entlang strolche, sehe ich die wohl hässlichste Architektur Innsbrucks. Gleichzeitig aber treffe ich laufend auf mild gewordene Menschen, die das alles gebaut haben und noch immer darin wohnen. Mehr war nicht drin, sagen sie, bei uns hat es eben nicht zu einer Wiese mit Kuh gereicht.
Zu Werner Lampert: 1946 Feldkirch bis 2025 Salzburg. Lampert war ein österreichischer Unternehmer und Buchautor. Er wurde als Pionier für Bio-Produkte bezeichnet. Der gelernte Kirchenrestaurator beschäftigte sich mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft und Anthroposophie. Für den Handelskonzern Billa entwickelte er 1994 die Bio-Marke Ja! Natürlich und 2006 die Bio-Eigenmarke Zurück zum Ursprung für die Handelskette Hofer.
Literatur:
Werner Lampert: Unberührte Schönheit. Reisen zu den ursprünglichen Kühen der Welt. 2015.
Werner Lampert: Die Kuh. Eine Hommage. 2019.
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