Helmuth Schönauer bespricht:
Emil Kaschka (Vizeweltmeister im Fach Poetry-Slam)
Grünholz
Roman

Seit dem griechischen Gesellschaftsmodell Sparta gibt es die Einrichtung des Internats. Darin werden Lernen, Freizeit und Schlaf gebündelt den Insassen an den Kopf geworfen in der Hoffnung, dass dadurch für die Betroffenen ein nützliches Maß an Allgemeinbildung abfällt. In der Literatur gehört folglich der Internatsroman zu einem wesentlichen Bestandteil der Gesellschaftsbeschreibung, die vielleicht in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) ihren kanonisierten Höhepunkt erreicht.

In Südtirol sprechen sich heute noch die Jahrgänge der Achtzigjährigen mit der Insiderfrage an: In welchem Internat warst du? Denn seit Jahrzehnten lässt sich in der regionalen Führungsschicht das Denken auf drei Internatsschulen zurückführen: hermetisch, katholisch, patriotisch-folkloristisch.

Emil Kaschka lässt in seinem Roman Grünholz viel Inventar des Internatswesens mitlaufen, wenn er mit den Versatzstücken des Törleß einen modernen Text präsentiert, worin die wesentlichen Dinge mit dem Handy gestaltet werden.

Im Vorspann ist von einer Grünholzfraktur die Rede, bei der es um Knochenbrüche an einem jungen Skelett geht. Man kann aber auch einen Hackstock konnotieren, auf dem grüne Kids zu Kleinholz pädagogisiert werden.

Der Plot ist als Zweibettzimmerstück zusammengedampft, als Protagonisten treten der Ich-Erzähler Jonas, Wusel genannt, und der Mitbewohner Oskar auf, der wegen eines Hautschadens am Kopf ständig eine Mütze tragen muss. Beide definieren sich offensichtlich über die Frisur, weil es biologisch für diese Altersklasse noch keine individuellen Merkmale gibt.

Die Stimmung zwischen beiden lässt sich in einem Satz zusammenfassen. Zum Lesen zu aufgeregt, spielte ich mit dem Handy. (13) Man redet wohl nur das Nötigste und versucht im übrigen, den Internatsbetrieb über sich ergehen zu lassen.

Die Story erstreckt sich über die vier Jahreszeiten, die in der exklusiven Lage des Anwesens gut zur Geltung kommen. Das Internat kann man sich als rurale Einrichtung in gepflegter Lage vorstellen. Die Schülerjahreszeiten beginnen mit dem Herbst und enden open end im Sommer.

Routine des Lehrbetriebs, Fadesse der Pädagogik, Skurrilitäten des Lehrpersonals, Raufereien unter den Kids, alles geht seinen üblichen Gang. Das Besondere ist vielleicht, wie unbeholfen eine Generation von Handyusern wird, wenn es zum natürlichen Kontakt zwischen den Menschen kommen soll. In erster Linie stellt das Anmachen von Mädchen im Nachbartrakt den Ich-Erzähler vor Probleme. Die eine, die ihm ins Auge sticht, ist immer mit den Falschen unterwegs, und Lotte, die er beim Warten auf ein Strafverfahren im Direktionszimmer kennenlernt, übernimmt ihrerseits das Kommando, sodass es nichts wird mit einer feurigen Konversation.

Ein Internat lässt sich nur dann aushalten, wenn es zu Hause noch langweiliger zugeht. Jonas freut sich immer ausgiebiger auf das Internatsleben, wenn er zuhause zwischen Scheidungsvorbereitungen der Eltern und unmäßigem Verwandtenauftrieb zu Festtagen hin und her lavieren muss.

Dagegen ist im Internat verlässlich was los, vor allem, wenn das Schwein aus der benachbarten Landwirtschaft ausbricht und durch die Schule trampelt. Dagegen verblassen die Partys, die frühzeitig in Suff und Enttäuschung enden.

Das latente Drama bricht dann kurz vor Schulschluss aus. Oskar misslingt bei der Party ein homoerotischer Annäherungsversuch, in der Folge wird er gehänselt und gezwungen, sich als Schwuler zu outen. Jonas ist ziemlich perplex, dass er als Zimmerkollege ein Jahr lang nichts gemerkt hat.

In einem Elitehaus ist Schwulsein freilich immer noch ein Tabu, Oskar wird gemobbt und er sieht keinen anderen Ausweg, als sich vom benachbarten Turm zu stürzen. Seine Mütze fällt dabei vom Kopf, der als seltsames Mahnmal im Gelände liegt, ehe die Rettungskräfte eintreffen. Stumm und tot geht für ihn das Jahr zu Ende, und auch der Erzähler fühlt sich ziemlich erledigt, als er am Ende des Schuljahres in den Sommer hinausgelassen wird.

Emil Kaschka erzählt erwartbar, verdichtet und unspektakulär. Dadurch kommt der öde Vorgang eines Schuljahres authentisch zur Sprache. In einem Internat findet Erziehung bekanntlich durch Aussitzen von Zeit statt.

Die übermittelten Bildungsinhalte sind ausgewogen, unspektakulär, beinahe inhaltslos. Wenn man bedenkt, dass Internate immer das wiederspiegeln, was eine Gesellschaft den Besten ihrer Zeit überstülpen will, so kann man am ehesten von Fadesse, Stromlinienformat und Multikompatibilität sprechen, die in Zukunft gefragt sein dürften.

Wahrscheinlich hätte Musil seinen Törleß heute ähnlich erzählt, wenn auch mit essayistischeren Sätzen. Aber Grünholz ist ja ein Roman für junge Lesende, und denen dürfte Emil Kaschkas Erzählweise gefallen.

Emil Kaschka: Grünholz. Roman.
Graz: Keiper 2021. 181 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-903322-42-4.
Emil Kaschka, geb. 1996 in Tirol, lebt in Innsbruck.

schoepfblog gratuliert dem Autor zum Vizeweltmeister!

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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