Helmuth Schönauer
Das Flop-Opernhaus
Was haben Erl und VW gemeinsam?
Sie haben gigantische Überkapazitäten.
Stichpunkt

1.
Manche Nachrichten lassen sich mit Erdbeben vergleichen, wenn sich plötzlich die Bodenplatten des gesellschaftlichen Konsenses verschieben und darauf gebaute Glaubenssätze zum Einsturz bringen. Eine solche Erdbeben-Nachricht rennt gerade quer durch Deutschland. Erstmals seit Gründung von Republik und VW wird daran gedacht, ganze VW-Werke zu schließen. VW hat 500.000 Autos zu viel gebaut, das entspricht der Kapazität von zwei Werken. Für diese Über-Kapazitäten ist schlicht kein Markt da!

Diese Transformation, wie der Umbau von Märkten meist genannt wird, steht auch in andern Bereichen an, und die ausgelösten Erdbeben sind für betroffene Regionen gleich erschütternd wie das Konzernbeben für Wolfsburg. Auf Tirol umgemünzt heißt diese Erschütterung etwa, dass wir womöglich zwei Täler zu viel an Tourismus haben, wenn Betten auf Halde stehen. Noch ist es nicht soweit, aber wir sollten nicht so tun, als ob uns die Ausläufer einer VW-Krise nicht erwischen würden.

Wenn nämlich die Kohle bei den tapferen Autobauern ausbleibt, wirkt sich das auf die Urlaubslust der Werktätigen aus, die sich durch keine KI der Welt ersetzen lässt.

2.
Bereits jetzt sind in Tirol Überkapazitäten zum Beispiel am Sektor Theater und Oper sichtbar. Hier lässt sich der VW-Satz wörtlich anwenden: Wir haben in Tirol mindestens zwei Opern-Fabriken zu viel.

In Erl stehen sie wie Zwillingstürme eines Lost Places im Gelände und starren ihrem eigentlichen Wesen entgegen. Die Schauspielhäuser in Erl sind nämlich nichts anderes als verkleidete Grenzruinen, wie sie andernorts das Playcastle in Seefeld, das Outlet-Center am Brenner und die Gedenkstätte für James-Bond und antike Bikes am Timmelsjoch darstellen. Alle diese Gebäude gleichen armenischen Wachtürmen aus frühchristlicher Zeit, die dort mittlerweile eine Schafherde von der anderen trennen. Und um diese Gebäude mit Sinn zu versehen, werden sie ein paar Jahre lang mit einem Programm bespielt, das an der Öffentlichkeit vorbei geht, ehe dann offiziell das Gras darüber wachsen darf.

Was soll man also mit den verlorenen Festspielstätten in Erl tun, bis man sie offiziell als Grenzwächter-Burgen ausrufen kann? Aus vielen Vorschlägen aus Kunst und Wissenschaft stechen wegen ihrer Einmaligkeit zwei Übergangs-Projekte hervor.

a)
Man könnte das alte Festspielhaus zu einer Gedenkstelle für klerikale Missbrauchsopfer umfunktionieren. Die kalte Atmosphäre würde sofort Emotionen und Solidarität mit den Opfern kirchlicher Gewalt auslösen. Man könnte dabei jene Dokumente als Kunst zeigen, welche diverse Orden bislang nicht der staatlichen Justiz ausgehändigt haben. Das ganze Unterfangen könnte den bisherigen Namen beibehalten: Passionsspielhaus.

b)
Die moderne Bude nebenan könnte man als Flop-Haus einrichten, nachdem sie ja von diversen Stiftungen bereits steuerlich abgeschrieben ist.

Wieso sollten nicht interessante Flop-Opern aufgeführt werden, nachdem man sich an Wagner und den übrigen Mainstream-Banalitäten abgearbeitet hat? Es müsste doch ein fanatisches Opernpublikum für all jene Sachen zu gewinnen sein, die andernorts durchgefallen sind. Aus dem europaweiten Repertoire misslungener Opern würden dann die interessantesten Stücke bei einem eigenen und international sonst nirgends existierenden Flop-Festival aufgeführt.

Erl könnte so die Transformation zum Lost Place kreativ überbrücken. Das Opernhaus würde werbewirksam zum Flop-Haus. Und dem Festival-Tourismus ist es egal, was gespielt wird, Hauptsache, die Betten sind voll.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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