Helmuth Schönauer bespricht:
Urs Faes
Sommerschatten
Roman
Über eine späte Liebe und die Kraft der Erinnerung

Nur noch anwesend zu sein ist wahrscheinlich die letzte Jahreszeit, die einem im Leben beschert ist. Alle bisherigen Lebensabschnitte sind verschwommen und selbst für die Erinnerung nur mehr als Schatten wahrnehmbar. Die Sommerschatten legen sich allmählich über das betagte Leben und dimmen die Lichtquellen.

Urs Faes Sommerschatten ist ein kleiner Dimm-Roman, worin über ein spätes Glück Bilanz gezogen wird, das sich als Schlussteil eines fragilen Beziehungsbogens spät eingefunden hat. Dem Ich-Erzähler ist eine Beziehung mit der Cellistin Ina widerfahren.

Er las gerne, was sie schrieb. Schreiben ja, aber keine Begegnung. (39)

Und dann ist doch etwas recht Tiefgehendes daraus geworden. Aber das Wort Tiefgang löst schon wieder Schrecken aus. 

Wieder hatte ich das Bild vor Augen, wie sie unter Wasser geblieben war. Nicht mehr aufgetaucht. Treibend am Grund. Dann aufgefischt im Koma. (46)

Der Roman handelt von jenem Koma, das sich von einer Sekunde auf die andere über jeden legen kann. Der Erzähler ist gerade bei seiner Lieblingsbeschäftigung. Er pendelt vom Freizeitwohnsitz zum Alterswohnsitz und scannt dabei die Landschaft mit seinem Auto. In der von gezähmter Natur üppigen Ideallandschaft für Reife und Weisheit, eingerahmt von historisch romantischen Bezeichnungen wie Elsass und Schwarzwald, surft der Held im Alltagsrausch dahin, als ihn ein Anruf erreicht.

Eine Freundin von Ina erzählt von diesem Tauchunfall, der alles verändern wird. Ina ist im Koma und liegt im Krankenhaus. Schlagartig ändern sich die Lichtverhältnisse für die Wirkung von Worten. Banalitäten werden peinlich in ihrer Pingeligkeit, die großen Worte sind nie ausgesprochen worden, die Beziehung zu Ina ist als literarisches Ereignis aufgemacht, die Kunst als Begleiterin zwischen zwei Seelen, aber auch als große Ausrede, nichts vor einander offenlegen zu müssen.

So schreibe ich sie herbei, finde Bilder und Worte, spreche zu ihr, bis sie mit mir durch die Räume geht. (62)

Der Roman wird nach dieser fatalen Einstimmung zu einem inneren Monolog über das Aushalten von Zeit und Wirklichkeit. Die Menschen sind Funktionsträger, die um das Intensivbett drapiert sind. Ina liegt bewegungslos im Zentrum der Inszenierung.

Die Welt im Koma. Wirklichkeit. Immer das reglose Gesicht vor Augen. Die Kanülen. Die Hoffnung auf eine Bewegung. (91)

Tage, Themen und Orte sind zu kleinen Portionen verschrumpelt, die einzeln aufgerufen werden in der Hoffnung, dass sich dadurch etwas ändert. Immer wieder fährt der Erzähler zwischen den Wohnungen hin und her, verständigt Angehörige von Ina, sucht gemeinsame Orte auf und flüchtet an einen See, an dem er regelmäßig den Zusammenhang der Dinge verliert.

Die Orte treten zurück und hinterlassen ihn als Figur in der Natur.

Nur im Erzählen kehrt das Leben zurück: nur dort ist auch das Verlorene wiederzufinden. (134)



Aus dem Sommer fallen weitere Monate und werden zu Herbst und Winter. Das Koma wirft immer den gleichen Schatten. Weihnachten wird zu einer mentalen Katastrophe, denn es verstümmelt alle Gemeinsamkeiten. Auch der Versuch, an das Vorleben Inas anzuknüpfen, schlägt fehl, denn auch dieses Vorleben hat immer mit fatalen Stürzen geendet.

Inzwischen hat man Ina in ein Pflegeheim überstellt. Der Schriftsteller gibt sein letztes, um zu beschreiben, wie schön es in der Natur liegt. Aber im Innern liegt seine Ina im Koma und er beginnt mit dem Vorlesen. Ganze Literaturstriche sucht er auf und überschüttet die stumme Partnerin damit. Meist sind es nur die Angehörigen, die ihm zuhören und ergriffen sind.

Mittendrin halten alle den Atem an. Sie hat sich bewegt? – Zumindest das Augenlid hat gezuckt.

Sommerschatten ist ein feiner Bilanz-Roman über die ereignislose Jahreszeit, die man gerne mit reifem Alter umschreibt. Das Buch ist dicht und kurz genug, dass man es in zwei Portionen auslesen kann. Die Abschnitte sind sauber mit Überschriften versehen wie Haftis auf der Kühlschranktür von Dementen. Die ideale Alterslektüre.

Das Thema ist schließlich erträglich zerlegt in kleine Ablenkungen über Kunst, Natur und die Insignien eines modernen Singlehaushalts. Es geht um das Aussitzen einer unerträglichen Lage. Die Partnerin ist still und handsam. Kein Streit kann etwas trüben. Und vielleicht ist diese komatöse Stimmung sogar die Lösung schlechthin. Denn dem Schatten ist es egal, worauf er fällt.

Urs Faes: Sommerschatten. Roman. Über eine späte Liebe und die Kraft der Erinnerung. Berlin: Suhrkamp 2025. 155 Seiten. EUR 24,70. ISBN 978-3-518-43224-2.
Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar