Helmuth Schönauer bespricht:
Gaby Wurster (Herausgeberin)
Südtirol
Eine literarische Einladung

Eine Einladung spricht immer die liebenswerten Eigenschaften der Gastgeberin an: im Falle der Südtiroler Literatur sind das die markante Grenzlage der deutschen Sprache und der Mittelpunkt des Interesses auf dem Weg nach Süden ins poetische Land der blühenden Zitronen.

Gaby Wurster lässt in ihrem Streifzug durch die jüngere Literaturgeschichte Südtirols vor allem die deutschsprachige und ladinische Dichtung zu Wort kommen, auch im Eingangsgedicht von Luigi Serravalli wird programmatisch eine Poesie der zwei Kulturen besungen.

Literarische Streifzüge werden gerne mit einer Gartenschau verglichen, die einzelnen Pflanzen sind bewährt und bekannt, aber das Arrangement erweckt sie in einem paradiesischen Gelände zu einer unerwarteten Bodenständigkeit.

Die Wegbeschreibung berichtet von den bleichen Bergen der Dolomiten, die als Sagen-Reich zwischen der Adria und den Alpen aufgetürmt sind. Sie werden poetisch das schönste Bauwerk der Welt genannt. (11)

Ein Sagenschatz der anderen Art ist über das Land gestülpt, wenn es um die Italianisierung Südtirols geht. Die im vorigen Jahrhundert politisch motivierte Zweitbenennung von Orten wird heutzutage als bloße Verballhornung von Land und Leuten empfunden. Von der Geschichte abgeklärt entsteht heute beinahe der Eindruck, als wäre damals ein mit Gewalt spielender Hauch von Dada über das Land gezogen.

Das Essen hat jedenfalls durch die Mehrsprachigkeit seinen unverwechselbaren Peak erreicht, was immer auf den Tisch kommt, in irgendeiner Sprache kommt das Einmalige zum Ausdruck.

Die Modernisierung der Landschaft durch Anlegen von Stauseen lässt sich zu neuen touristischen Höhepunkten ausbauen wie im Fall des Reschensees, wo man klug einen Kirchturm für Selfies hat stehen lassen.

Der Streifzug durch Geschichte, Küche und Kultur ist informativ angelegt mit jenem Augenzwinkern, dass es sich ja um eine Einladung handelt, sich das alles selbst noch genauer anzuschauen.

In den Text-Beeten der Gartenschau sind sodann alle Kapazunder vertreten, die im literarischen Kanon Südtirols ihre marmorne Textur entfaltet haben. N.C. Kaser, Joseph Zoderer, Claus Gatterer, Anita Pichler, Alexander Langer – sie alle sind meist bekannter in der Geschichte als die jeweiligen Landeshauptleute, was als Zeichen gedeutet werden kann, dass Dichtung zumindest in der Erinnerung bei den Südtirolern etwas zählt.

Selma Mahlknecht erzählt in Berg und Breakfast vom harten Brot des Tourismus, das zumindest in den Anfängen wie Sagengut aus den Steinen geschlagen werden musste. Alexander Langer überlegt aus der Sicht eines Kindes, was es auch bedeuten kann, wenn jemand am Sonntag nicht zur Kirche gehen muss. Und Roland Verra zeigt mit ladinischen Fallbeispielen, wie leicht die Sprache zwischen den Zeilen verloren gehen kann, wenn sie nicht sorgfältig behütet wird, während sie die Übersetzungsmaschine durchläuft.

Als zeitlose Anker dienen Stücke wie Bozener Berge von Stefan Zweig oder das Gedicht zum Ausklang März, Brief nach Meran 1952 von Gottfried Benn. (136). Darin besingt unmittelbar nach dem Weltkriegsdesaster der politisch nicht Unverstrickte das Aufblühen der Vegetation. Diese Mischung aus politischer Verschämtheit und hoffnungsvollem Aufbruch in die nächste Saison kann vielleicht als Charakterzug der Südtiroler überhaupt angesehen werden.

Wenn alle Platz genommen haben, blickt man sich beim Event manchmal um, wer nicht eingeladen worden ist. Wie in der Literatur üblich, liegt der Marktwert in der Verfügbarkeit der Rechte. In der vorliegenden Einladung hat Haymon als der Haus- und Hofverlag Tirols offensichtlich die meisten Rechte abgetreten, das hat aber den Nachteil, dass die Autoren außerhalb dieses subventionierten Kanons nicht wahrgenommen werden.

Was alle Südtiroler Anthologien nicht am Radar haben, ist die Tatsache, dass es eine ganze Kolonie von Tiroler Autoren gibt, die Südtirol von außen beschreiben, wie sich die Südtiroler im Ausland benehmen und welche Charaktereigenschaften sie dort pflegen.

Aber vielleicht ist es die Aufgabe der Lesenden, selbst nach Südtirol zu reisen, und die poetischen Darbietungen zu überprüfen. – Die freundliche Einladung steht!

Gaby Wurster (Hg.): Südtirol. Eine literarische Einladung. Berlin: Wagenbach 2024. (= Salto 284). 136 Seiten. EUR 22,70. ISBN 978-3-8031-1383-2.
Gaby Wurster, geb. 1958, lebt in Tübingen.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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