Helmuth Schönauer bespricht:
Siljarosa Schletterer
entschämungen
Körperkantate
Mit drei Grafiken von Franz Wassermann
Lyrik ist niemals eine Gebrauchsanweisung für etwas Bestimmtes, aber sie hilft, den Gebrauch der Wörter zu überdenken.
Siljarosa Schletterer überschreibt ihren Gedichtband mit entschämungen und nennt diesen Vorgang eine Körperkantate. Damit sind die Gedichte in ihren Kernzonen aufgesucht: es geht um Körper, Resonanzkörper, Klangkörper und alle damit musikalisch zum Schwingen gebrachten Bedeutungen. Es geht aber auch um diverse Körperteile, die von Scham überklebt sind oder in einem völlig verunsicherten Bedeutungsfeld vor sich hinwirken.
Ehe man seine eigenen Körperteile und ihre Klänge als Leser in die Begutachtung nimmt, lohnt es sich, den Waschzettel der Autorin zu lesen. Immerhin geht es um subtile, tabuisierte, ja entschämte Gedankengänge.
– Wir brauchen eine neue Sprache für den Körper. Die Vagina ist keine büchse / keine dose keine / pflaume.
– Seit jeher formt Sprache die Wahrnehmung von Sexualität und Körper.
– Worte, die für die scheinbar neutrale körperliche Anatomie verwendet werden, haben Macht.
Nach dem letzten Gedicht meldet sich die Autorin abermals mit einem Nachschlag zu Wort. Über einen QR-Code gelangt man auf einen Seitenlink ihrer Homepage, worin unter anderem geflüsterte Textproben, visualisierte Grafikströme sowie ein Katalog medizinischer Fachausdrücke gleichwertig nebeneinandergestellt zu rezipieren sind.
Zwischen dieser Klammer aus Vorbemerkung und Abschieds-Code liegt die Körperkantate, aufgesplittet in 65 Partikel, die meist mit einem musikalischen Begriff überschrieben sind wie sinfonia, aria, recitativo, duetto.
Der letzte Eintrag zieht ein unromantisches Resümee: 65. coro os pubis // das wegschämen / hat noch nie geklappt (88)
Die einzelnen Gedichte sind in einem innig-intimen Ton gehalten, der aus dem Klangkörper des Ichs mehr gepresst wird, als dass er freiwillig käme. Scham liegt über den einzelnen Wörtern, Körperteilen und Absichten, die ein Aussprechen vorlauter Begriffe auslösen könnte. Dabei geht es ziemlich ungewöhnlich zu, wenn von männlicher Klitoris die Rede ist und die Eier streng getrennt werden zwischen frei-hängend und am Eierstock drapiert.
Die Kommunikation ist verschämt vulgär, in der Erregung kann alles zu einem geleakten Chat werden. hier findet der wahre / sexchat statt / im blut wlan / zwischen stock / & kopf (43)
Vielleicht lassen sich vier Textschichten aus den Chats, Gesprächen, Monologen und inneren Seufzern heraus destillieren.
– die musikalische Fachsprache
– das medizinische Wortinventar
– die Geräusche der angezupften Klangkörper und Organe
– die durch Verunsicherung aufgeraute Empfindsamkeit der Romantik
Manches ist freizügig formuliert wie der Entwurf zu einer politischen Parole, anderes vergreift sich scheinbar im Ton, wenn Begriffswelten durcheinander kommen. An einigen Stellen steht die Unsicherheit im Vordergrund, mit der Materie erregter Körperteile umgehen zu müssen.
da fragt die scham / wie sie in die lippen kam / & die zeugenschaft / in die hoden / schamsackbefreit. (42)
Standfeste Lyrik ist es gewohnt, dass sie tiefernst und schmunzelnd zugleich gelesen werden kann. Viele Klangkörper haben einen unverschämt politischen Zug in sich, wonach sich die Gedichte als Manifeste eines neuen Geschlechterbewusstseins lesen lassen. Andere wiederum erinnern an Gespräche von Apres-Ski-Personal, in denen am Ende des Tages überhaupt nichts mehr klar ist, und die im Volksmund auf die zugespitzte Formulierung hinauslaufen: Wer ist jetzt Mandl und wer Weibl?
Hinter den hochmögenden Kompositionen steckt nämlich auch die ungeschminkte (unverschämte) Dialektkunst heimischer Gebrauchssprache. Nirgendwo zeigt sich die Sprache so empfindlich wie an jenen Körperteilen, die bereits glühen, ehe sie in Funktion treten müssen.
entschämungen sind vielleicht eine ironische Antwort auf allzu romantische Liebesgedichte. Und in ihrer Unverschämtheit klingen die Gedichte der Körperkantate mächtig und wundersam.
Siljarosa Schletterer: entschämungen. Körperkantate. Mit drei Grafiken von Franz Wassermann.
Innsbruck: Limbus 2025. 96 Seiten. EUR 15,-. ISBN 978-3-99039-265-2.
Siljarosa Schletterer, geb. 1991, lebt in Innsbruck
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