Helmuth Schönauer bespricht:
Regina Hilber
Am Rande
Zwischenaufnahmen aus der Mitte Europas
Essays
In beinahe geheim überlieferten Lebenserfahrungen ist oft die Rede davon, dass die fettesten Gräser am Rande eines Feldes anzutreffen sind. Und auch im weiten Feld der Kultur gilt die Erfahrung, dass sich die essentiellen Dinge oft am Rand abspielen.
Regina Hilber wendet in ihren Essays Am Rande ihr Augenmerk diesen Randzonen zu, die das genaue Gegenteil einer sogenannten Randnotiz sind. Sie stellt das jeweilige Thema in den Mittelpunkt authentischer Erfahrungen und entrückt es dadurch dem Rand. Ihre Essays sind nämlich Versuche im wörtlichen Sinn, Reise- und Lektüreerfahrungen zu einem neuen Thema zu verschmelzen. Und wie bei ungewöhnlichen Versuchen üblich, ist auch der Leser dazu angehalten, seine Lektüre des Essays als offenen Versuch des Lesens zu betreiben.
Mit dem Untertitel Zwischenaufnahmen aus der Mitte Europas sind drei Kreisbewegungen subsumiert, die Italien, entlegene Teile Mitteleuropas und das ehemalige Galizien und Lodomerien durchstreifen. Die Texte fußen auf Reise-, Lese- und Reflexionsarbeit der letzten fünf Jahre.
Was am Rande so alles historisch, kulturell und politisch zu liegen kommt, zeigt gleich der erste Text Am Rande – Sumpf und Mussolini. Etwa siebzig Kilometer südöstlich von Rom liegt jener Sumpf, der Mussolini einst groß gemacht hat, indem er diesen trockengelegt hat. Ein Ausflug in dieses Areal mündet in der Stadt Norma, die offensichtlich einen einzigartigen Weg gefunden hat, unversehrt durch die Geschichte zu schlüpfen, indem sie jeweilige Parolen und Zuschreibungen durch Zeitgenossen ignoriert und als bloße Schriftzüge an den Hausfassaden stehen lässt.
Eine Begehung des scheinbar ruhig gestellten Ortes zeigt Schriftzüge aus der Mussolini Zeit, die überlagert sind von aktuellen Parolen der Neofaschisten. Beide Welten liegen still vor der Betrachterin und müssen von ihr zum Leben erweckt werden. Das reflektierende Ich gesteht dabei eine unendliche Zuneigung zu Italien, intensiver als es eine Liebe zu Menschen sein könnte. Aber dennoch ist das große Wort Liebe maßvoll, denn es inkludiert, dass man damit auch das Böse akzeptieren und ertragen muss als Wesenszug des Geliebten.
In die Stille des Ortes sind Geräusche hineingeschnitten, die beim Anstreifen des Löffelchens an der dicken Tassenwand des Espresso entstehen. Begleitet wird dieses gehörte Szenario von Bildern, die stilvoll inszeniert sind. Im Buch abgedruckt erscheinen sie als Schwarzweiß-Fotos. Die Hausinschrift aus der Mussolini-Zeit ist gleich groß wie die nach hinten gedrehte Beschriftung der Espresso-Tasse und lässt erahnen, dass der Rand von etwas auch immer eine eigene Maßeinheit beinhaltet.
Ein ähnlich dramatischer Vorfall des Erlebens spielt sich in Ferrara ab, das als Fahrradstadt Italiens gilt. Der Dom als obligates Fotomotiv jenseits aller Zeiten wird plötzlich plastisch und konstruktiv, wenn er hinter einem Spalier abgestellter Räder auftaucht. Auch dieser Text vermittelt ein unvergessliches Geräusch, wenn jäh Zikadengetöse einsetzt.
Regina Hilber nähert sich den Städten und Randlagen mit allen direkten Sinnen, die eine Durchstreifung des Gebietes zulässt. Anschließend in der Reflexionsphase im Hotel kommen die Lektüreerfahrungen zum Zug, die das Erlebte ergänzen, konterkarieren oder auch stilvoll ausblenden. Allmählich wird der Grund dieser Randerfahrungen klar: Es geht um die Verwirklichung einer Identität im Strom von Architektur, Zeit und Geschichte, Gesellschaftskritik oder Politik.
So wird die Stadt Bologna zu einem Ort der Auseinandersetzung mit Pier Paolo Pasolini, der den Essay als wuchtiges Zitat abschließt. Wenn ein Dichter keine Angst mehr einjagt, soll er besser die Welt verlassen. (81)
Ähnlich nachdrücklich klingt das Essay-Porträt über Triest nach, wenn in den Wahrnehmungen der Stadt plötzlich eine klitzekleine Erzählung eines unbekannten Meisters versteckt ist. Feruccio Fölkel (1921-2002) liefert mit seiner Erzählung vom Jahre 5744 den wahren Grund für den Triest-Besuch, und tatsächlich entsteigt er dem Rand der Literaturgeschichte und rückt für ein paar Seiten ins Zentrum der Lektüre.
Jeder der vierzehn Essays erfindet einen originalen Zugang zu den behandelten Städten, Geländen, Mythen und Bildern am Rande. Die Alpen, sonst oft als Zentrum des Gebirgswesens dargestellt, schrumpfen zu einem zusammengebundenen Blumenstrauß in Blau – Symbolfarbe für den rechten Rand. In einer Art essayistischer Kernschmelze mutiert der Rand des Allgäus zu Lyrik.
Die Aufsätze über die Galizischen Städte und ukrainischen Kriegsstätten erzählen von der Zeitlosigkeit, die den ukrainischen Hotspots der Geschichte innewohnt, wenn man sie vom Friedhof aus denkt. Hinter dem Rand liegt das Verschwunden-Sein, könnte man zusammenfassen, wenn man die historische Bezeichnung Lodomerien für das Herausfallen aus der Geschichte nimmt.
Regina Hilber rückt mit ihren Zwischenaufnahmen den Rand für kurze Zeit in die Mitte, ohne deshalb die Mitte zu verdrängen.
Regina Hilber: Am Rande. Zwischenaufnahmen aus der Mitte Europas. Essays. Mit einem Vorwort von Peter Hodina. Bilder. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2024. 278 Seiten. EUR 24,-. ISBN 978-3-903522-19-0.
Regina Hilber, geb. 1970 in Hausleiten, lange Jahre in Tirol, lebt in Wien.
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gratuliere, liebe regina!
Wer in der Mitte steht, ist immer gleich, da gibt’s kaum Entwicklung und Individualität.
Deshalb bleibe ich lieber am Rand und recke und strecke mich……
Tolles Buch mit interessanten Beschreibungen. Danke Regina
Einladende Rezension ! Ein Buch, das ich gern lesen werde….