Helmuth Schönauer bespricht:
Paolo Rumiz
Eine Stimme aus der Tiefe
Reise durch das unterirdische Italien

Italien besteht aus mindestens zwei Ebenen. Einmal aus einer Erdoberfläche, die an manchen Tagen wegen des Overtourismus als solche nicht mehr zu erkennen ist. Und zweitens aus einem unterirdischen Kosmos aus Geräuschen, Magma, Vibration und Explosion.

Paolo Rumiz ist vielleicht einer der letzten Grenzreisenden unserer Zeit, das heißt, er reist nicht nur an eine Grenze der Wahrnehmung, sondern überschreitet sie auch.

Eine Stimme aus der Tiefe lässt sich als wohl komponierter Roman lesen, worin im Stile einer Bildungsexkursion ein Erzähler die vulkanischen Hotspots des Landes abschreitet und zusammen mit den Bewohnern vermisst. Tatsächlich hat der Autor als Korrespondent und Essayist für die Tageszeitung La Repubblica zwischen 2009-2023 unzählige Reisen in die Tiefe Italiens unternommen und die Reportagen im Feuilleton veröffentlicht.

Die einzelnen Exkursionen liefern die Bausteine für jenes erzählte Hufeisen, das Grundlage für die Dramaturgie ist. Über Italien ist in Hufeisenform ein geothermischer Ring gespannt, der sich als eine Linie zwischen Sizilien, Vesuv, Bologna, Bozen, Triest und Istrien legt, ehe er die dalmatinische Küste hinunter schlingert und sich bei Korfu aus dem Bild schwindelt. Zumindest in der eingeklebten Karte an den Buchenden ist dieser Spannungsbogen symbolhaft aufgezeichnet.

Die siebzehn Reisen sind mit einer angespannten Erzählklammer fixiert. ‒ Zu Beginn gibt es eine Belehrung für die Bewohner jenseits der Alpen, wonach es sich beim Phänomen der Stimme aus der Tiefe um ein ortsgebundenes Ereignis handelt, das sich nur schwer erzählen lässt. Ohne Lokalaugenschein kann sich der Körper nämlich nichts von den Schwingungen, Amplituden und Intervallen vorstellen, die den Betrachter in schauriger Weise heimsuchen.

Über allem steht die Empfehlung: Orte werden bei Tag betrachtet und bei Nacht verstanden.(8)



Mit dieser Vorgabe sind viele touristischen Aktivitäten überfordert, denn wer gibt sich heute noch die Mühe, an ihrem Ort mit den Einheimischen zu reden, um gemeinsam mit ihnen die archaischen Kräfte dieser Erdkugel zu erfahren.
Am Schluss gibt es einen kleinen Exkurs über die uralte Stimme der Erde. Darin beschreibt der Autor den Karst seiner direkten Heimat Istrien. Diese Halbinsel ist vielleicht wie eine Muschel gestaltet, die man sich ans Ohr hält, um das gesammelte Rauschen dieser Welt zu hören.

Die Kraftzentren der aufgeregten Erde werden in Erfahrungsberichten der physio-psychischen Art beschrieben. Wie wenig man mit lautmalerischen Emoticons ausrichten würde, zeigt die bemerkenswerte Übersetzung des Romans durch Karin Fleischanderl. Die ortsansässigen Laute und Krawalle müssen nämlich von einer italienischen Symbolsprache so ins Deutsche übertragen werden, dass die Glaubwürdigkeit beim Erkunden der Erd-Grundgeräusche gewährleistet ist.

Die dargestellten Phänomene arten bald einmal in handfeste Geschichten aus, es ist die Rede von Höhlensystemen, Sagen und Unwägbarkeiten. Der Beginn eines Gedankens ist dabei noch halbwegs realistisch, aber was daraus wird, kann niemand sagen. Es ist typisch Vulkan: er kann ausbrechen oder nicht. Jedenfalls knurrt er.

Neben den klassischen Tiefen-Räuschen, die als Erdbeben, Lava oder Wolke den Bewohnern oft anderntags einen geologischen Kater bringen, sind es oft auch Abwege, die auf die Spur der unterirdischen Geister hinweisen.

Das Bergwerk Brosso, an der nördlichen Spitze des erzählten Bogens gelegen, gilt als die Quelle edelsten Quarzgesteins und vollkommener Dunkelheit. Wahrscheinlich gibt es keine Mineraliensammlung der Welt, die nicht zu einem Gutteil von Exponaten dieses Bergwerks gespeist wäre. Das Geheimnis dieser Mineralien liegt als Dunkelheit über dem Gestein. So entsteht beim Betrachten von Quarzen oft das Gefühl, die absolute Dunkelheit geschaut zu haben.

Neben der geographischen Komponente spielt beim Rumoren aus der Tiefe auch die zeitliche eine wesentliche Rolle, sie schafft es erst, aus den Geräuschen eine Erzählung zu formen.

Der Autor führt dieses zeitgebundene Rumoren anhand seiner Geschichten vor, die er anlässlich der Erdbeben in Friaul 1976 selbst vor seiner Haustüre erlebt hat.

Erdbeben sind wahrscheinlich eine besondere Art der Erzählung, heißt es in dieser Theorie, die sofort auf die Phlegräischen Felder verweist, worin die aufregendsten Geschichten Italiens gedeihen. Niemand nämlich weiß dort, welcher Erdriss als nächstes zu erzählen beginnt, und was der Inhalt seiner Geschichte sein wird.

Eine makaber-elegante Art, den Untergrund, ja das Fundament eines Landes zu erzählen.

Paolo Rumiz: Eine Stimme aus der Tiefe. Reise durch das unterirdische Italien. A. d. Ital. von Karin Fleischanderl. [Orig.: Una voce dal Profondo, Mailand 2023]. Wien, Bozen: folio 2025. 295 Seiten. EUR 28,-. ISBN 978-3-85256-911-6.
Paolo Rumiz, geb. 1947 in Triest, Reisejournalist und Schriftsteller, lebt in Triest.
Karin Fleischanderl, geb. 1960 in Steyr, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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