Helmuth Schönauer bespricht:
Martin Mader
Am Anfang wieder die Nacht
Roman
Wer das erste Mal durch Zufall oder als Geheimtipp in das Darknet geraten ist, wird hinterher nur schwer beschreiben können, was er darin gesehen hat. Martin Mader entführt mit dem Roman Am Anfang wieder die Nacht die Leser in ein Darknet, worin alles vorkommt, was man sich in einer Gegenwelt erwarten möchte: Dunkelheit, Exzesse, Geld, Drogen, Waffen, Verschwörungen, Geschäfte.
Etwas poetischer formuliert könnte man meinen, im Roman wird die Geschichte zu einem einzigartigen Loch aus dunkler Materie, die alles aufsaugt und zerfrisst, was an Erinnerungspartikeln noch übrig ist.
Die Parallele zum Darknet ermöglicht es, das Textkonglomerat von der Nacht einzugrenzen und notdürftig zu beschreiben. Die Handlung im herkömmlichen Sinn besteht aus der These, dass sich zu Silvester 1999 als Jahrtausend-Sprung ein Riss durch alle Biographien, Ideologien und Wirtschaftsprogramme gelegt hat. In der ominösen Silvesternacht hat besagter Riss die bisherigen Konturen zerfetzt und eine zukunftslose amorphe Masse hinterlassen.
Verhandelt wird diese These an drei Protagonisten: Karla, Judit und Nico erzählen aus der jeweiligen Innensicht, wie sich der Zeitensprung auf ihr Leben ausgewirkt hat. Diese drei Erzählperspektiven zu drei Zeitpunkten (1999, 2006, 2012) lassen ein Potpourri großer Unruhe und Zukunftslosigkeit aufbrechen.
Zusammengehalten werden diese Erlebnisse vom gemeinsamen Projekt einer Disko, die sich wahlweise Koma oder Amok nennt. Darin tauchen plötzlich Konkurse genauso auf wie große Bündel von Geldscheinen, Erlebnisse aus der Reality-Zone gehen stracks über in Narko-Wahn, Beziehungen arten in mafiöse Geschäfte aus und Gewalt bricht los, halb getarnt als Suizid, halb als Unfall.
All diese Stimmungsbilder sind in schnellen Schnitten erzählt – als atemlose Berichte für eine Anamnese, die wortlos in ein leeres Protokoll übergeht.
Wie beim Surfen ist vor allem die Querbewegung das entscheidende Movens: man verlässt die angesteuerte Seite immer in einem neuen Kontext, ohne den alten Zusammenhang auch nur in minimaler Weise zusammenzufassen. So haben die einzelnen Prosa-Zellen keinen logischen Andockstutzen für die nächste Sequenz, gerade der rasche Wechsel von Input und Reflex lässt die Protagonisten zu Gedanken-Torsi erstarren, während sie sich ständig neue Rollen überstülpen.
Die drei Helden geraten jedenfalls zur Jahrtausendwende in eine formidable Krise, weil sich ihre bisherige Erfahrung von Geschichte, Leben und Beruf nicht mit dem Gap vereinbaren lässt, der sich vor ihnen auftut.
Aber nicht nur die Helden stehen am Abgrund, ihre Eltern müssen feststellen, dass ihre offiziellen Familiengeschichten nicht mit den Fakten übereinstimmen. Wenn die öffentliche Geschichte Bekenntnisse einfordert, sei es als Statement zum Nationalsozialismus, zur Wirtschaft des Kapitalismus oder zur Handhabung des Patriarchats, geraten die Vorfahren leicht in Panik.
In einem exemplarischen Weltausschnitt in einem Gebirgsdorf wird auf den ersten Blick alles mit prosperierendem Tourismus überdeckt, unter der Erfolgsgeschichte freilich grummelt es, alte Industrieformen und Handwerke sind am Ende, und selbst das bislang verlässliche Parteiensystem löst sich auf, aus der FPÖ spaltet sich das BZÖ heraus als Mini-Alptraum für einen künftigen Parlamentarismus.
Die einzelnen Gedankenansätze fußen dann auch auf dystopischen Meldungen. Wie man sich auch entscheidet, es führt bei mir zu nichts. (40)
Bald macht es keinen Unterschied mehr, ob wir in Illusionen leben oder nicht. Der Zusammenbruch von Versprechen wie Solidarität und Wohlstand, das Zerfallen von Raum und Zeit in eine permanente Gegenwart, die jederzeit und überall im Netz abrufbar ist, eine Beschleunigung ohne konkretes Ziel, kein roter Punkt in der Zukunft, den es zu treffen gilt, das alles führt in die Depression. (57)
Allmählich schält sich aus den Pixeln des Darknet das Bild einer Gesellschaft heraus, der ein recht zynisches Zukunftsversprechen abgegeben worden ist: Am Anfang wird wieder die Nacht sein.
Martin Mader schlägt dieses Nachtleben als dunkle Projektionsfläche vor, auf der man alles installieren kann, was man bei Tageslicht nicht erleben will. So gesehen ist der Roman für Leser eine passable Therapie, die bösen Geister der eigenen Zukunft aus der Realität zu vertreiben.

Martin Mader: Am Anfang wieder die Nacht. Roman. Salzburg: Otto Müller 2025. 370 Seiten. EUR 23,-. ISBN 978-3-7013-1333-4.
Martin Mader, geb. 1987 in Innsbruck, lebt in Wien und Linz.
Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.
Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen
