Helmuth Schönauer bespricht:
Margit Weiß
Was man nicht sieht, ist doch da.
Roman

Wenn eine zarte Pflanze verletzt wird, wächst sie geduckt und verwundet auf. Diese Baumschulweisheit gilt erst recht für Kinder, die in Aufzucht-Institutionen rabiater Systeme unter die Räder kommen.

Margit Weiß erzählt vom zehnjährigen Hans Dakosta, der 1954 vom Unterricht abgeholt wird und ohne Wissen seiner Eltern in eine Erziehungsanstalt gesteckt wird. Was man nicht sieht, ist doch da! – Diese Erfahrung, die ein Kind im Erziehungssystem der Tiroler Nachkriegszeit machen muss, wird zu einem leidvollen Leitsatz, mit dem der Held sich über Wasser zu halten versucht. Dabei ist auch diese Fügung schon wieder heimtückisch, denn im großen Schlafsaal der Anstalt spielt Bettnässen eine gewichtige Rolle.

Der Roman wird in elementaren Erziehungs-Sketches erzählt, die wie saure Halloween-Bonmots zu einer desaströsen Karriere aufgefädelt sind. Die einzelnen Kapitel sind jeweils um die Protagonisten angesiedelt, sodass sich die Möglichkeit ergibt, in das Innere der Bösewichte zu blicken, während sie ihren Frust am Helden abarbeiten.

Im Mittelpunkt steht Hans Dakosta, der sich selbst als Hans empfindet, wenn es um seine persönliche Identität geht, der aber im Stande ist, blitzschnell in den Nachnamen Dakosta zu wechseln, wodurch er eine Figur der Behörde und des Schulsystems wird.



Als sich in einer Südtiroler Siedlung in Nordtirol im Keller verschiedene Jugendliche gegenseitig die Geschlechtsorgane zeigen, wohl um zu sehen, ob zwischen den Nationalitäten ein Unterschied besteht, wird Hans denunziert, von Gendarmen aus der Schule geholt und in ein Erziehungsheim gesteckt. Ein Fluchtversuch auf dem Weg dorthin macht die Sache nur noch schlimmer, denn jetzt gilt das Kind als wirklich böse und renitent.

Diese brutalen Erziehungskarrieren lassen sich teilweise aus den Zeitgeschichtlichen Umständen erklären. Familien wie die Dakostas gelten, da Südtiroler, als Fremde im Land, sie werden alles andere als wohl gelitten, zumal sie oft staatenlos sind und Opfer behördlicher Willkür. Gesteigert wird dieses Ungemach, wenn es sich um Ladiner handelt, denn diese gelten bereits den Südtirolern selbst als aufpassenswert, und umso mehr sinken sie im Ausland Tirol auf die letzte Stufe der Migrations-Hierarchie.

Über diesen Vorurteilen ist eine notdürftige Schul- und Erziehungsbürokratie aufgespannt, in der sich minderbelastete Nazis genauso verwirklichen wie pädagogisierende Psychopathen und Alkoholiker. Sie alle eint ein Hass auf die Franzosen als Besatzer, die zwar den Krieg gewonnen haben, aber wir haben den Alltag gewonnen.

Der Roman schaut in die Köpfe der Protagonisten, die oft unreflektiert ihre Rollen hinnehmen und kaum einen Zusammenhang zwischen den einzelnen sozialen Geschwüren sehen, von denen alle befallen sind.

Hans verbringt viel Zeit im Kerker, einer Sonderstation am Gangende, wo er von der Welt isoliert mit sich selbst zurecht kommen soll. Einziger Lichtblick ist der Gärtner, der so etwas wie Natur und Schönheit in die Welt des Isolierten bringt. Er stellt sich auch der Anstaltsleitung in den Weg und droht, die schweren Verfehlungen der Leitung zur Anzeige zu bringen. In einer Gesellschaft voller Verfehlungen kein leichtes Unterfangen.

Nach Jahren kommt Hans frei, über seine Schwester gelingt ihm ein loser Anschluss an die Außenwelt, die sich deutlich verändert hat. So haben beispielsweise die Dakostas die Staatsbürgerschaft bekommen und sind Menschen geworden.

Hans freilich bleibt ein Leben lang Gärtner, was für gebrochene Kreaturen oft der einzige Ausweg ist, im Rhythmus der Vegetation halbwegs mit der Welt versöhnt zu sein.

Als alter Mann sitzt der Gebrochene schließlich auf dem berühmten Alters-Bankl, auf das eine inzwischen prosperierende Gesellschaft als letzte Erziehungsmaßnahme ihre Helden sitzen lässt. Der Tod im Spital hat eindeutig Züge einer Erziehungsanstalt, Hans spürt, wie jemand ins Zimmer kommt und ihn beobachtet, ob er ja nichts Renitentes im Kopf hat beim Sterben.

Am Cover taucht der Buchtitel ganz im Sinne seiner Botschaft sachte aus dem Unsichtbaren auf: Was man nicht sieht, ist doch da.

Die Generation der Anstaltskinder ist gerade dabei, von dieser Welt abzutreten. Viele Hanse sind darunter, mit denen oft niemand gesprochen hat. Selbst die Aufarbeitung der Missstände im Tiroler Anstaltswesen steht teilweise erst am Anfang. Der Roman von Margit Weiß hilft, das Thema ein wenig sichtbarer zu machen.

Margit Weiß: Was man nicht sieht, ist doch da. Roman. Bozen: Edition Raetia 2025. 251 Seiten. EUR 24,-. ISBN 978-88-7283-969-0. Margit Weiß, geb. 1963 in Kufstein, lebt in Kufstein.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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