Helmuth Schönauer bespricht:
Judith W. Taschler
Nur nachts ist es hell.
Roman
Geschichte erzählt als Gutenachtgeschichte für Erwachsene – mit dieser frischen Leseempfehlung ermuntern einander die Fans von Judith Taschler, ihre neue Familiensaga zu studieren.
Judith Taschler legt ihr Versprechen, die Geschichte mit bemerkenswerten Schicksalen und Geschichten auszukleiden, mit Quellen gesichert offen. Im Nachklang des Romans ist ein fiktionaler Stammbaum abgedruckt, in dessen Mittelpunkt die Heldin Elisabeth Brugger steht. Sie wird aus der Ich-Perspektive etwa die Zeit vom ersten Weltkrieg bis 1972 erzählen.
Als Quellen sind vier Bücher aufgeführt, die auf jenen Stoff hinweisen, der durch praktische Lebensanwendung ausgeschmückt wird. Es geht dabei a) um das beschleunigte Jahrhundert um 1924, b) um Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus, c) um die Geschichte der Chirurgie in 28 Operationen und d) um Krankheiten, die Geschichte machten.
Der Titel nur nachts ist es hell gibt einen Hinweis auf die Erzählhaltung hinter der Heldin: Sie kramt eines Tages ein Schreibheft aus der Schublade und beginnt ihr Leben aufzuschreiben, egal, was die Nachkommenschaft daraus einmal macht. Diese Aufzeichnungen erhellen nächtens das Leben durch Rückschau.
Anlass für das Aufschreiben der Familiengeschichte ist eine Demonstration 1972 in der Wiener Innenstadt, als eine Künstlerin im Käfig die Lage der Frau performt. Angesichts der unerträglichen Situation im Zusammenhang mit dem Abtreibungsparagrafen wird die Erzählerin aufgewühlt, hat sie doch ein Leben lang als Gynäkologin in der Gemeinschaftspraxis mit ihrem Mann gearbeitet. Ihre Patientinnen sind oft von Engelmacherinnen verpfuscht worden, einmal im katholischen Ständestaat ist sie sogar verhaftet worden, weil sie verblutende Frauen nach einer Abtreibung gerettet hat.
Das Leben der Erzählerin ist geprägt von jener Zufälligkeit, mit der sich die Geschichte selbst entwickelt. Anhand der Familie lässt sich bestens zeigen, mit welcher Hilflosigkeit letztlich das Individuum gegenüber sich selbst und dem Familienverband ausgesetzt ist. Dabei handelt es sich bei Elisabeth Brugger und ihrem Mann Georg um bestens ausgestattete Protagonisten: sie entspringt einer oberösterreichischen Mühlendynastie, er einer Wiener Ärzte-Linie. So sehr sie sich in ihrem Wirtschaften auch zu verwirklichen suchen, sie sind letztlich hilflos den Zeitereignissen ausgesetzt.
Im ersten Weltkrieg verliert ihr Mann Georg einen Arm, was ihn in seinem medizinischen Wirken einschränkt, die Erzählerin studiert daher Medizin, wird aber im medizinisch-akademischen Bereich behandelt, als ob sie ebenfalls die Hand verloren hätte. Nach den Einschränkungen im Ständestaat, der selbst in die Medizin hineinwirkt, steht schon der zweite Weltkrieg an. Für die Familie beginnt wieder das Desaster von Einrücken, Bangen und Überspielen der eigenen Ohnmacht. Elisabeth hat zwei Söhne, um die sie zittert, wohl wissend, dass der Jüngere eine Zeitlang als Schreibtischmitarbeiter eines SS-lers geschützt ist. Diesem Sohn gelingt es, halbwegs unbeschadet als Übersetzer zu überleben, weshalb er nach dem Krieg in Tirol bei den Franzosen in der Militärverwaltung unterkommt.
Der Topf mit Zeitgeschichte köchelt vor sich hin, während ihn die Erzählerin immer wieder abschmeckt und mit Begebenheiten und Anekdoten würzt. Hochzeiten, Eheverfehlungen, gelungene und schräge Karrieren, Pensionierung und Abschied vom Lifestyle-Glanz machen die Nacht der Erinnerung hell. Die Chronik verläuft einerseits als aufgeschriebene Geschichte festgefügt ab wie in einem Kassenbuch, aus dem keine Seite entrissen werden darf, andererseits sprießt während der Niederschrift das Leben als Wiedergängerin seiner selbst aus dem Text. Können sich Charaktere ändern? heißt es einmal selbstkritisch. – Nein. Die festgelegten Schicksale müssen abgearbeitet werden.
In die Chronik der Ärztin sind raffinierte literarische Verfahrensweisen eingebaut. Einmal ist es das Wesen eines Fortsetzungsromans, der bei jedem Umblättern einen kleinen Höhepunkt ansteuert, dann wieder geht es um das raffinierte Einflechten eines bereits veröffentlichten Romans. Dadurch wird man über die Vorgeschichte der Chronik sachte informiert, als ob man das Buch Über Carl reden wir morgen (2022) gerade gelesen hätte.
In einem eingeflochtenen Brief-Konvolut erzählt der Bruder von seiner Auswanderung nach Amerika und seinem Scheitern. Die Außenperspektive aus einem anderen Kontinent zeigt dramatisch, dass man seiner Bestimmung nicht zu entfliehen vermag. Man nimmt nämlich seine Geschichte überallhin mit.
Judith Taschler erzählt die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen Mühlviertel und Wien mit der Leichtigkeit eines Familienfestes, auf dem unzählige Stimmen ihre persönlichen Höhepunkte zum besten geben. Dabei hält sich die erzählende Stimme stets zurück mit Wertungen und Moral. Soll die Nachkommenschaft damit machen, was sie will. – Das gilt auch für die Lesenden.
Judith W. Taschler: Nur nachts ist es hell. Roman.
Wien: Zsolnay 2024. 320 Seiten. EUR 24,70. ISBN 978-3-552-07507-8.
Judith W. Taschler, geb. 1970 in Linz, lebt in Innsbruck.
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