Helmuth Schönauer bespricht:
Gerard Kanduth
lichtbilanz
gedichte und bilder
Mit einem Vorwort von Engelbert Obernosterer
In der Lyrik und in der Fotografie kommt es vor allem auf das Licht an. Beim ersten Einsetzen der Dämmerung lässt sich eine erste Bilanz ziehen: Wie war das Licht des Tages und welche Bilder hat es zugelassen?
Gerard Kanduth zieht mit seinem Gedicht- und Bilderband eine Lichtbilanz zum Tag, zum Aufflackern der Jahreszeit und wohl auch zum Abklingen-lassen der Alltagsrasanz.
an der schwelle / zwischen tag / und nacht / ziehst du / lichtbilanz // was und wieviel / hast du / gegeben / bekommen / genommen / gewonnen / verworfen / verloren // ist dein blick / klarer oder trüber / geworden (91)
Von dieser Bilanz spricht auch Engelbert Obernosterer in seinem Vorwort, wenn er das erste Aufflammen der Lyrik Kanduths beschreibt. Noch vor der Matura ist er mit glasklaren Texten hervorgetreten und hat die Pädagogenschaft in Verwirrung gebracht. Später hat er fünf Lyrik- bzw. Kurzprosabände verfasst und sich diese quasi vom Mund des Berufes abgespart. Denn sein Beruf als Richter verlangte vollen Einsatz und wohl auch Aussparung des Lyrischen, während es die Welt zu verhandeln galt. Jetzt ist der beinahe Verschollene wieder da, und noch immer sind es die zu Wortkristallen geschliffenen Meisterstücke, die eine helle Lichtbilanz aufschlagen.
Zu dieser Methode des Herausschleifens und Abglättens der Motive gehört es auch, die Gedichte, so gut es geht, in Nahkontakt mit jenen Bildern treten zu lassen, die während des Schaffensprozesses entstehen. So ergänzen einander Bilder und Texte auf jene zeitlose Art des Nebeneinander-Schauens, die in der Gegenwartstechnik des Scrollens nicht mehr möglich ist.
Während am digitalisierten Screen die Bilder nach Wegwischen verlangen, ziehen die Bilder im Lyrikband das Interesse des Beschauers in die Tiefe und verbitten sich das schnelle Vorbeischauen. Blickdichte heißt dieser Vorgang, der mit dem Bild des jungen Haubentauchers erklärt wird, dessen ganze Welt aus Schilfrohr besteht. (57)
Die knapp sechzig Gedichte sind vorerst mit mehrdeutigen Ordnungsbegriffen überschrieben und über ein Inhaltsverzeichnis abrufbar, die beigestellten Fotos sind ohne Titel, aber sie sprechen in den naheliegenden Texten die Einladung aus, mit dem Vokabular des Gedichtes auch das beigefügte Bild zu bestreiten. Durch diese Andockmöglichkeit zwischen Bild und Text werden die Lesemöglichkeiten schier unendlich.
Thematisch spielt dieses Mehrschichtige eine tragende Rolle. Im Gedicht Bootsklassen heißt es dazu, dass es besser ist, mit den Armen zu rudern als mit den Reichen. Diese Unschärfe des Sachverhalts artet schließlich beim lyrischen Ich in semantische Leere aus, wenn vor lauter Sehnsucht nach Glück der Name des gebuchten Hotels verlorengeht.
An anderer Stelle ist es das Glück selbst, das es vermasselt, indem es nämlich keinen Parkplatz für den Glückssuchenden zur Verfügung stellt.
Schon das Eingangsgedicht zeigt die Tücken von allzu genauem Planen auf.
optimierung / vor lauter landkarten lesen / ganz / auf die / abreise / vergessen (11)
Das Erstellen einer Lichtbilanz bedarf großen Einsatzes von Kurz- und Langzeitgedächtnis. Eine Hilfe für Bilanzen in der Erinnerungsferne sind oft Songs und Ohrwürmer, die jäh auftauchen und sich auf die Schulter des Lyrikers setzen, bis das Gedicht fertig ist.
Aus pop-poetischen Titeln wie sentimental journey, sunday afternoon oder get your motor running baut sich die Stimmung einer fernen Jugend auf, Internats-Einsprengsel fliegen durch die Erinnerung auf und werden an einer Stelle gar zum Alptraum, als Stoßwellen (21) eines Erdbebens die Insassen flüchten lassen. Noch nach Jahren setzt Grauen ein bei der Vorstellung, dass ein Internat ja auch ein Grab sein könnte.
Ein Klassentreffen, als plötzlich alle in weißem Haarschmuck auftreten, hat ebenfalls Potential für alptraumhafte Deutung.
An der berührendsten Stelle dieser Reise nach dem ausgewogenen Licht geht die Erinnerung bis in die Vorzeit des Autors zurück. Unter dem unauffälligen Titel Endbahnhof ist das Schicksal des Großvaters in vier Strophen aufgeschrieben. Er wird am Kriegsende in der Danziger Bucht vermisst, die Großmutter wartet und konsultiert gar eine Wahrsagerin, aber er kommt nicht und wird zwei Jahre vor der Geburt des Autors rechtlich für tot erklärt.
Diese Todeserklärung ist eine der seltenen Stellen, wo Gerard Kanduth etwas mit dem Recht zitiert. Sonst verlässt er sich auf Bilder und Lyrik, die wahrscheinlich die gerechtesten Urteile über die Welt zu fällen imstande sind.
Gerard Kanduth: lichtbilanz. gedichte und bilder. Mit einem Vorwort von Engelbert Obernosterer. Fotos von Gerard Kanduth und Anna Theresia Kanduth. Klagenfurt: Hermagoras 2025. 102 Seiten. EUR 24,90. ISBN 978-3-7086-1358-1.
Gerard Kanduth, geb. 1958 in Lienz, lebt in Schiefling am See.
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