Helmuth Schönauer
Wie wir als Pradler integriert wurden.
Die ultimative Weihnachtsgeschichte
Da die Antibaby-Pille erst im August 1960 auf den Markt kam, wurden wir bis dahin versehentlich Geborenen jeweils im September als Sechsjährige eingeschult, wie man damals zur Integration sagte.
Im Herbst saßen wir zu vierzigst in einer Parterre-Klasse in der Leitgebschule (Innsbruck-Pradl) und wurden von einer Frau Lehrer in Ordnung gebracht. Das Gendern war noch das Einfachste, das wir lernen mussten, indem wir einfach überall Frau davor sagten, wenn es kein Mann war.
Schon nach der ersten Stunde hatten wir es heraußen. Bei uns hieß es Frau Lehrer, weil die Lehrperson einen Kittel anhatte, in der Nachbarklasse hieß es Herr Lehrer, weil er eine Krawatte umhatte.
Wir konnten alle kein Deutsch, denn was wir da sprachen, war volkstümliches Gebrauchs-Sprech, um die Tätigkeiten Essen, Spielen, Gehorchen, Lernen und Bravsein mit Satzfetzen zu begleiten.
Die Frau Lehrer war in der Nazizeit ausgebildet und musste nach dem Krieg pausieren. Als sie uns unterrichten durfte, war sie schon alt, krank und angefressen auf die Welt. Wir lernten in der Hauptsache das Antreten, wenn wir einen Raum betraten, wechselten oder überhaupt das Schulgebäude verließen. Wir lernten, die Freundschaften nach der Körpergröße auszurichten, denn so hatten wir immer Freunde zur Seite, wenn wir der Größe nach antreten mussten.
Bevor wir ins Lernen kamen, mussten wir einzeln vor der Klasse erzählen, wo wir herkamen. Da wir das nicht auf Anhieb wussten, mussten wir zu Hause nachfragen. Aber auch dort war oft niemand daheim, oder man wusste nicht, wo man herkam, sodass es fast bis Weihnachten dauerte, bis wir alle wussten, wer wir waren.
Die Frau Lehrer ließ sich wochenlang in kleinen Portionen unser Schicksal erzählen. Wir waren zwar alle aus Pradl, wo unsere Schule stand, aber das war ihr zu wenig. So hörten wir seltsame Namen wie Baden Württemberg, Bayern, Südtirol, Sudetenland, Pommern, Egerland, Banat und Siebenbürgen. Einige waren aus Tirol, das sie in Ober- und Unterland eingeteilt hatten. Fast niemand war aus Innsbruck.
So ungefähr fühlen sich wahrscheinlich die eingeschulten Kids heute, wenn sie wieder Jahr für Jahr integriert werden. Nur dass es heute keine Herren Lehrer mehr gibt, sondern nur Frauen Lehrer, die man aber gendern muss, was sie zu Lehrerinnen macht. Und auch diesen Begriff darf man nicht mehr verwenden, weil heute nichts mehr gelernt wird, sondern nur mehr integriert. Weshalb die Lehrenden jetzt Pädagoginnen sind. Und auch die Kids müssen gegendert werden, egal, welcher Sprache sie mächtig sind. In Graz konnte man heuer unter sechs verschiedenen Geschlechtern wählen, wenn man sich für die Schule anmeldete.
In der Erinnerung sagen die heute Siebzigjährigen, die damals integriert worden sind, dass es egal ist, was in der Schule abgeht, weil man in diesem Alter ohnehin nichts versteht und sich einen persönlichen Reim auf die Welt machen muss. Die verwelkte Frau Lehrer von damals wäre heute aufgeschmissen wie wir Kids von damals.
Erinnerlich ist uns noch das Bemühen, uns eine Art Weihnachtsgeschichte zu erzählen, wonach wir alle unterwegs sind und irgendwo zufällig auf die Welt kommen, ohne geschätzt zu werden. Die Frau Lehrer versuchte, die einzelnen Länder, aus denen unsere Eltern stammten, auf einer Landkarte zu zeigen. Das war alles einmal deutsch, sagte sie und erschrak, weil sie deswegen so lange nicht mehr hatte unterrichten dürfen.
Was immer geschehen ist, wir müssen uns eine schöne Heimat machen, wir nennen uns einfach Pradler. Unter diesem Titel gab es damals die Pradler Ritterspiele, die aber im Rechtsstreit mit Pradl lagen. Außerdem machte ein Pradler Eishockey-Verein Furore, der sich aber bald in Schartner Bombe umbenannte.
Der größte Pradler ist der Dichter Rudolf Greinz, sagte sie immer wieder, wenn sie uns ein Vorbild nennen musste. Tatsächlich wird Rudolf Greinz in diversen Literaturgeschichten als der größte Pradler Literat bezeichnet, weil Pradl damals noch nicht in Innsbruck eingemeindet war. Sonst wäre er wohl der größte Innsbrucker geworden.
Viele von uns beschlossen damals, ein großer Pradler zu werden. Auch ich habe damals beschlossen, Dichter zu werden, um Rudolf Greinz den Rang abzulaufen und ihm die literarische Schneid abzukaufen.
Wie immer, wenn die Integration vorbei ist, zerstäuben sich die Integrierten in alle Windrichtungen. Von den damals vierzig Pradlern in unserer Klasse haben gerade einmal fünf noch den Wohnsitz in Innsbruck, wie Recherchen zu einem Klassentreffen ergaben. Und auch mit dem größten Pradler ist es mit uns nichts geworden. Der größte Pradler ist nämlich René Benko geworden.
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Als zugezogener Pradler (Volksschule in Dreiheiligen,ähnliche Ausgangslage) habe ich mich köstlichst amüsiert,besonders über den letzten Satz.