Helmuth Schönauer
Wer darf in die Schatztruhe
des Brenner-Archivs,
um vergessen zu werden?
Stichpunkt

Das Literaturhaus am Inn verschreibt sich selbst jene Literaturgeschichte, mit der es am bequemsten leben kann.

Bildungsoffensiven können auch nach hinten losgehen. Als man im vorigen Jahrhundert die Literatur in vollen Zügen gefördert hat, bildete sich mit der Zeit ein gewaltiger Germanistenüberschuss heraus, der als akademisches Proletariat die Ästhetik des Literaturbetriebes zu kippen drohte. Als Notmaßnahme wurden um die Jahrhundertwende in allen Bundesländern sogenannte Literaturhäuser gegründet, die letztlich nur den einen Sinn hatten: Möglichst viele Germanisten gegendert unterzubringen.

Eines dieser Häuser hat seinen Hochsitz in Innsbruck und ist im zehnten Stock eines Uni-nahen Gebäudes untergebracht.

In der Ausschreibung der aktuellen Leitungsstelle fallen Begriffe wie:
– Selbständige Forschung vor allem im Bereich der Literaturvermittlung
– Organisatorische und inhaltliche Durchführung der Veranstaltungen (Programmplanung, Einführungen, Moderationen)
– Selbständige Durchführung von Lehrveranstaltungen und Abhaltung von Prüfungen
– Präsenz im (österreichischen) Literaturbetrieb
– Profunde Kenntnis der deutschsprachigen, vor allem Österreichischen und Tiroler Gegenwartsliteratur sowie des Literaturbetriebs
– hohe sprachliche Ausdrucksfähigkeit im Mündlichen als auch im Schriftlichen
– Flexibilität und Belastbarkeit (Abendtermine), Kreativität


Kein Wunder, dass sich auf solche Ausschreibungen hin jeweils ein paar hundert germanistische Personen melden, die unter dem herabwürdigenden Diktum leiden: Germanisten kannst du für alles verwenden, außer für Germanistik.

Die einzige Verbindung zwischen der literarischen Einrichtung und dem hypothetisch angenommenen Publikum ist das Netz. Das Literaturhaus ist im Netz durchaus passabel aufgestellt zwischen Brenner Archiv und Tiroler Literatur-Lexikon.

Gerade dieses Lexikon ist mit archivarischer Sorgfalt, wissenschaftlicher Coolness und zeitlosem Forschungsglauben hinterlegt und kann wärmstens empfohlen werden. Das tagespolitische Literaturmagazin LILIT freilich wird als Übungsfläche für Bachelor-Arbeiten genutzt und folgt keinem stringenten Sinn. Die Beiträge werden von Übenden designed mit dem Ergebnis, dass die Kommentierung der jeweiligen Jahreslektüre umso blumiger ausfällt, je niedriger das Semester ist, in dem sich die germanisierende Person gerade aufhält.

In einem kleinen Rezensionsfenster zur Tiroler Gegenwartsliteratur sind beispielsweise für das Jahr 2024 zwölf Rezensionen aufgefädelt. Auf der Suche nach Kriterien, wonach diese zwölf Bücher ausgesucht worden sind, stößt man auf das magische Verhältnis neun zu drei. Die besprochenen Bücher stammen von 9 Frauen und 3 Männern (zum Zeitpunkt der Publikation, das Geschlecht kann sich stündlich ändern). Die Genres weisen 9 Romane und 3 Gedichtbände aus.

Man könnte diese zwölf Rezensionen also als Inhalt für eine Schatztruhe sehen, in die jährlich die besten zwölf Bücher aus Tirol abgelegt werden. Freilich ist die Halbwertszeit dieser Bücher sehr gering, manche werden schon mitten im aktuellen Jahrgang vergessen.

So genügt es für das Verfassen einer kleinen Jahresliteraturgeschichte aus Tirol, die Themen unabhängig vom Genre anzusprechen.

Die Highlights aus 2024:


– Wie speist ein Diktator, während er Krieg führt?
(Augustin, Als ich mit Z.)
– Die Welt baut sich vielschichtig auf, während punktgenau mit Munition aus Wind und Gras geschossen wird.
(Pircher, Aria)
– Eine Frau ergreift Besitz von der eigenen Familiensaga und breitet diese zwischen Wien und dem Mühlviertel aus.
(Taschler, Nur nachts)
– David muss wegen seines Namens Bildhauer werden, um dem Anspruch seines künstlernden Vaters zu entsprechen.
(Ghedina, Am Rande)
– In einem Zweckbau für Ziegen werden sechzig Motive über Leben, Altern und Sterben eingelagert.
(Rainer, Zweckbau)
– Nach einem Tag am Meer bleibt ein großes Berauschtsein aus Salzwasser, Wellen, Wind und dem großen Horizont.
(Vieider, Wer trägt)
– Eva verfängt sich in der eigenen Biographie, worin wie in einem Glas Realität und Wahnsinn aufgeschäumt sind.
(Prantl, Glas)
– Tiere verdienen es, mit der gleichen Liebe beschrieben zu werden wie Menschen.
(Obexer, Unter Tieren)
– Ein Junge outet sich als schwul und ist enttäuscht, dass es allen egal ist.
(Jäger, Theo wird lauter)
– Nachforschungen in der Familienchronik ergeben, dass die Kirche sämtliche Vorfahren malträtiert hat.
(Vescoli, Mutternichts)
– Drei Jugendliche haben Max und Moritz gelesen und interpretieren deren Streiche für die Gegenwart, indem sie kriminell werden.
(Hofstädter, Max Moritz Nenad)
– Ein verschollener Held wird aus Gedächtnisgründen revitalisiert, indem sein Leben zwischen Bozen und Brasilien noch einmal aufgefrischt wird.
(Heim, Herr Gasbarra)

Die Tiroler Literatur wird vermutlich nicht besser, wenn sie vom Literaturhaus wahrgenommen wird. Eher gilt der ätzende Umkehrschluss: Wenn das Literaturhaus nichts von einer Literatur mitkriegt, ist diese am richtigen Weg.

 
 

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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