Helmuth Schönauer
Untertauchen im Zimmertheater
Stichpunkt

Bei Pandemien und in Diktaturen zieht sich das Theater aufs Zimmer zurück. Während das Tiroler Landestheater in einer Krise steckt, wird in alter Samisdat-Manier Zimmertheater gespielt, wie sich neulich auch bei einem Treffen ehemaliger Theaterleute, Kabarettisten und Bibliothekare in Bayern gezeigt hat. (Samisdat: Untergrund-Literatur des ehemaligen Ostblocks)

1.
Zimmertheater ist ein dramatisches Genre, bei dem das Zimmer als Ort des Schauspiels dient. In Tirol macht zudem der Begriff Zimmerstunde diesem Theater Konkurrenz, gilt es doch im Tourismus als Bildung, wenn sich das Personal aufs Zimmer zurückzieht, um etwas zu lesen oder geistig an sich zu arbeiten.

Einen ersten Höhepunkt erreicht diese subversive Theaterform mit Martin Walser, dessen Stück Die Zimmerschlacht (1967) zum legendären Diktum führt: Der Autor verbraucht den Alltag, um zu zeigen, wie uns der Alltag verbraucht.

Zur selben Zeit ist in Prag Vaclav Havel mit seinem Zimmertheater im Untergrund unterwegs. Seine Termine müssen konspirativ angelegt werden und sind bis zum Schluss nie fix, weil der spätere Präsident der tschechischen Republik zuweilen als Autor und Theatermacher im Gefängnis sitzt statt im Wohnzimmer.

Seither erlebt diese Kleinkunstform immer dann eine Blütezeit, wenn es mit dem Großen Theater abwärts geht. Künstler und Publikum tauchen aus der Öffentlichkeit ab und gehen in den Untergrund. Dabei können Buchpräsentationen genauso in ein klandestines Festival münden wie kabarettistische Parforce-Ritte durch die Literaturgeschichte.

Zu Zeiten, als es noch eine Erwachsenenbildung in Österreich gab, wurden viele Bildungsveranstaltungen als Zimmertheater abgehalten. Ob es um die Themen Wohnraumdesaster oder Übergewicht ging, um Vertikutierer, Tupperware oder Thermomix: als Alltag im Alltag ließ sich das Publikum oft beeindrucken, weil es inkognito bleiben konnte. Während der Pandemie schließlich konnte im Zimmertheater eine theatralische Resteverwertung am Leben erhalten werden. Der Lockdown erwies sich als ideale Publikumskulisse für in der Öffentlichkeit nicht einsehbare Stücke.

2.
Beim einem Autorentreffen in Bayern erzählten die Künstler, die früher vor allem für das Kabarett gearbeitet haben, von den drei elementaren Veränderungen, die die Theaterkultur beeinflussen und den Zug zum Zimmertheater verstärken werden.

a) Seit im Netz die Unterscheidung fiction versus nonfiction aufgehoben ist, ist es auch im Theater zusehends unmöglich, einen Unterschied zwischen inszenierter und passierter Realität zu behaupten. Im Volksmund wird ohnehin die Vermutung diskutiert, dass sich das wahre Theater mittlerweile auf dem Weg dorthin abspielt und nicht am sogenannten Aufführungsort.

b) Während der Pandemie hat sich durch die Ausschüttung von Überlebensprämien an Wirtschaftstreibende das Verhältnis Angestellte – Unternehmer umgekehrt. Die Unternehmer hatten plötzlich Zahlungen ohne Gegenleistung am Konto, während die Angestellten sich plötzlich isoliert zu Hause vorfanden und sich unter dem Begriff Homeoffice wie Kleinunternehmer zu gebärden hatten. Zusätzlich zu dieser Rollenumkehr ist das Theater insgesamt von der Öffentlichkeit ausgeschlossen worden und fand sich im Lockdown ungewollt auf das Zimmertheater verwiesen.

c) Durch die Tik-Tokisierung der Welt hat sich ein neuer Realitätsbegriff entwickelt. Die aufgeführten Stücke lassen sich einteilen in solche, die am Bildschirm weggescrollt werden können, und solche außerhalb des Bildschirms, gegen die man machtlos ist. Das Zimmertheater in seiner radikalsten Form ist ein Scrollen von digitalen Stücken, das höchstens durch physische Nahrungsaufnahme und Defäkation unterbrochen wird.

Kasperl-Koch

3.
Da die großen Theater der Reihe nach in Schwierigkeiten geraten, man denke nur an die kulturelle Kahlschlag-Politik in Berlin, wird man das Theater vermehrt auf das Zimmer verlegen müssen. Der Innsbrucker Beitrag zu dieser Verlagerung könnte lauten: Wenn die ausgewählten Stücke für das Landestheater zu groß sind, müssen sie eben passend als Zimmertheater gestaltet werden!


Literatur-Download auf „Austrian literature online“

Helmuth Schönauer: Die Hofer-Brothers. Ein Volksstück fürs Zimmertheater. Theatermanuskript 1984. Uraufführung 1984 im Utopia Innsbruck.

Aus dem Nachwort: Wir sind uns im Klaren, dass das Zimmertheater jederzeit in ein Gefängnistheater übergehen kann. Unsere Stücke kommen ohne viel technische Einrichtung aus, das oberste Dramaturgie-Motto heißt nach einer Schlagzeile von Thomas Bernhard: Verzicht – Reduktion – Kargheit. Das Zimmertheater ist aus der Erkenntnis entstanden, dass öffentlich eigentlich nur Scheintheater gemacht werden kann. Wer einmal Zimmertheater gespielt hat, meidet das öffentliche Theater.
Unsere Devise heißt daher: Nicht hingehen!


Wikipedia:

Ein Zimmertheater ist ein Theaterbetrieb, der in einem ehemaligen Ladenlokal oder in einem anderen extra für einen Theaterbetrieb eingerichteten Raum stattfindet.

Noch kleiner als die Experimentier- und Probebühnen der Stadttheater, die sich zumeist „Studiobühne“ nennen, sind die von freiberuflichen Schauspielern oder engagierten Amateuren gegründeten Zimmertheater. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie keine „Guckkasten“-Charakteristik haben, die zahlenden Zuschauer sitzen hautnah am Rande des Geschehens. Das bringt es gelegentlich mit sich, dass sie direkt angesprochen und ins Spiel einbezogen werden können. Die Kunst des Schauspielers besteht so unter anderem darin, „immer genau zu wissen, wie weit er zu weit gehen darf“ (Marcel Pagnol). Die häufig experimentierfreudigen Zimmertheater wagen sich auch an Stücke, die in größeren Bühnen nicht gespielt werden.

Zu den bekanntesten Spielstätten dieser Art gehörte das von Helmuth Gmelin 1948 gegründete und bis 1999 von seiner Tochter Gerda Gmelin weiter geführte Theater im Zimmer in Hamburg. Schon 1947 hatte Günther Huster die Bühne „das experiment“ in Bremen gegründet.[1] Das Zimmertheater Tübingen – neben dem berühmten Hölderlinturm gelegen – stand zeitweise unter der Leitung von George Tabori, das Theater das Zimmer in Hamburg wurde 2022 mit dem renommierten Barbara Kisseler Theaterpreis ausgezeichnet. Manchmal werden auch Kellergewölbe zu Theatern umgewidmet; das ergibt dann die geringfügig nächstgrößere Variante Kellertheater, zum Beispiel das Garn-Theater in Berlin-Kreuzberg, das als Zimmertheater in einem Ex-Ladenlokal angefangen hat.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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