Helmuth Schönauer
Unruhe zwischen Zunge und Gaumen
Stichpunkt

Wenn von einem Wirbel in der Sommelierszene die Rede ist, verlesen sich die meisten und denken an die lokale Somalierszene. Und weil es ums Verlesen geht, ist auch Literatur im Spiel.

Tatsächlich besteht zwischen Somaliern und Sommeliers ein gravierender Unterschied. Die einen versuchen ihren Ruf, fallweise Fachleute des Dealens mit Genussmitteln (Drogen) zu sein, unter der Decke zu halten, die anderen unternehmen alles, um unter dem Label einer Meisterschaft so etwas wie professionelle Genussmittelberater (Drogenberater) zu werden. In beiden Fällen geht es um Geld.

Über Ungereimtheiten in der Weinverkosterszene mit ihren ausgeklügelten Farben und Abgängen wird schon lange gemunkelt. Denn niemand kann sich vorstellen, dass man außer mit Hilfe von Gas-Chromatographie einen Wein objektiv beurteilen kann. Das Schmatzen, Gurgeln und Augenverdrehen entspricht also einer Show, die suggerieren soll, dass es sich bei dieser Form des Alkoholismus um eine besonders alte und edle Kulturtechnik handelt.

Die körperlichen Auszuckungen eines Sommeliers bei der Präsentation entsprechen vermutlich jenen von Szene-Somaliern, wenn sie besonders reine Ware zum Verzehr anbieten.

Im jüngsten Fall einer getürkten Staatsmeisterschaft von Weinschlürfern soll ein Tiroler von einer Jurorin die Fragen im Voraus bekommen und dadurch einen Burgenländer abgehängt haben. Das Ganze ist wahrscheinlich nicht einmal ein justitiabler Fall, handelt es sich doch um den Austausch von geschmacklichen Wünschen, wie er oft zwischen Kind und Christkind angeleiert wird.


 


Der Schaden ist erträglich, wenn man vom Kapitaleinsatz absieht, den manche Winzer auf ihr Verkoster-Pferd gesetzt haben. Ein durchschnittlicher Weintrinker wird nämlich die Geschmacksverunreinigung zwischen Getue und Getränk ebenso wenig wahrnehmen, wie jene zwischen Zunge und Gaumen.

Für Nichtweintrinker ermöglicht die Petitesse aus dem Reich der Scharlatanerie einen schönen Querverweis auf die Magie der Literatur. Auch hier schmatzen Monat für Monat Rezensenten an den Büchern herum und legen dann eine getürkte Liste vor, die den Lesern vorgaukeln soll, was der Trend des Monats ist. Auch hier geht es um Geld.

Die zehn besten ORF-Bücher aus dem Oktober 2025 handeln beispielsweise
5 x von Nazis,
2 x von mehrsprachigen Kulturen,
2 x von Klimawandel und Artensterben,
1 x von Fake-News.

Welche Weine im Oktober 2025 angesagt sind, dürfte noch nicht feststehen. ‒ Bekanntlich hinkt der Geschmack der Realität nach. Mit dem Blick auf den Klimawandel lässt sich allerdings vermuten, dass Literatur und Wein immer trockener werden.

Die Lese- und Geschmackspapillen sind freilich imstande, sich selbst nachzujustieren, damit alles im grünen Bereich des Schmähs und seiner österreichischen Facette des Scheißdinix bleibt.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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