Helmuth Schönauer bespricht:
Martin Hanni
Oh! Südtirol
Das Reiselesebuch

Seit man gewisse Orte vor lauter Touristen nicht mehr sieht, müssen sich Reiseführer als sogenannte Inside Guides an die Einheimischen wenden. Diese reagieren mit einem verwunderten Oh!, wenn sie auf die eigene Lebenswelt zurückgeführt werden.

Martin Hanni wendet sich mit seinem Reiselesebuch Oh! Südtirol vor allem an die Einheimischen, die im Gewusel touristischer Prosperität sich inzwischen an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen.

Um dem allgegenwärtigen Over-Tourismus ein wenig Paroli zu bieten, werden die beiden strategischen Abwehrmechanismen Südtirols vorgestellt. Reinhold Messner empfiehlt pragmatisch, die Hotspots des Landes von jeglicher Aufmerksamkeit zu entkoppeln, sodass sich der Tourismus entzerrt. Mariedl Innerhofer empfiehlt in literarischer Manier, dass die Touristen das Geld als Schutzgebühr für die Natur schicken sollen, selbst aber dem Land fernbleiben, um es nicht durch Massenauflauf zu zerstören.

In beiden Fällen spielt die Literatur eine wichtige Rolle, indem sie Geschichten abseits der Hotspots erzählt und somit den Tourismus entzerrt. Oder indem überhaupt die Literatur den Besuch im Land überflüssig macht. Literatur wäre dann die richtige Antwort auf den Klimawandel.

In 37 Stationen quer durch Südtirol wird daher der Fokus weg vom Event hin zur Kultur gelegt. In einer saloppen Unterscheidung könnte man sagen: Event wird gemacht, Kultur entsteht.

Wo treten Künste, Kulturelle Ereignisse und Höhepunkte eines Genres von sich aus zu Tage? Welche Orte schreiben die Geschichte des Films, der Architektur und der Literatur, indem sie die Kunstschaffenden verstohlen animieren?
Daraus ergeben sich wundersame Geschichten über Locations, die quasi vor unserer Nase herumtanzen und den größten Zauber mit den Betrachtern aufführen.

Die Talferwiesen in Bozen regen zu einem Spaziergang an, der jäh in der verrückten Kunstform des DADA endet.
Unter der Laimburg südlich von Bozen liegt ein gewaltiger Felsenkeller, der die kostbarsten Tropfen vor dem Genussvandalismus durch hirnloses Trinken versteckt. Am Karer Pass tauchen Kurven und Gesteinsverrenkungen auf, die seinerzeit Agatha Christie zu verqueren Krimi-Konstrukten animiert haben. In Klobenstein und Oberbozen quietscht eine historische Bahn durch die Gegend, die eher als Architektur, denn als Verkehrsmittel angeschaut werden soll. Tatsächlich endet die Tour dann vor einem Musterhaus von Ludwig Mies van der Rohe.

Am Gampenpass tauchen während der Überquerung Schatten auf, die vielleicht noch auf jene Zeit zurückgehen, als hier Friedrich Dürrenmatts Film Das Versprechen gedreht worden ist. In Lana sind Spuren der sogenannten Bücherwürmer sichtbar. Diese haben zu DDR-Zeiten rare Dichter in den Westen geschmuggelt und mussten hinterher feststellen, dass einige davon für die Stasi gearbeitet haben. Das verfallene Hotel Zum Riesen in Martell dient als Lost Place den einen, als Mahnmal für Gigantomanie im Tourismus den anderen und ist idealer Anknüpfungspunkt für die Sagenwelt der anliegenden Schlucht.

Allein schon den Ortsnamen Stilfs zu nennen löst bei Literaturkennern Zungenschnalzen aus. Die grandiose Erzählung Midland in Stilfs von Thomas Bernhard gilt als schaurige Seelengeschichte in einem Kosmos, den man mit Gebirgsdracula überschreiben könnte. Am Brenner machen auch in der Literatur alle Station und holen sich wie in einem Outlet-Center Geschichten von Migration, Flucht und Vertreibung ab. Der gebürtige Sofiate Ilija Trojanow gilt als Meister von Grenz-Geschichten.

Militärexperten der Monarchie behaupten, dass Franzensfeste schon bei der Errichtung eher als Kunstwerk, denn als Bollwerk gebaut worden ist. St. Ulrich in Gröden flackert als Kurzfilm über Giganten über die Leinwand: Wim Wenders, Roman Polanski und Luis Trenker machten zumindest im Abspann ihrer Werke hier Station.

Und das Schlusskapitel ist bewusst als Apokalypse angelegt. Die Sequenz Ende vom Tal zeigt das Stadion von Antholz, worin demnächst die Biathlon-Weltmeisterschaften stattfinden werden. Allein das Bild hochgeklappter Plastiksessel vor imposanter Bergkulisse präsentiert eindrücklich, wie knapp Event und Kultur in Südtirol beisammen liegen.

Martin Hanni wird seinem Anspruch gerecht: Ein Reiselesebuch so klug zu schreiben, dass alles Wesentliche gesagt ist und man die Orte gar nicht mehr in natura abgrasen muss. Das entlastet Verkehr und Nerven ungemein und schafft Platz für jene Muse, auf die Kultur angewiesen ist.

Martin Hanni: Oh! Südtirol. Das Reiselesebuch. Abbildungen. Bozen, Wien: folio 2024. 160 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-85256-906-2.
Martin Hanni, geb. 1975 in Bozen, lebt in Bozen.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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