Helmuth Schönauer bespricht:
Florian Neuner
Die endgültige Totalverramschung

Der Höhepunkt an literarischer Lieblosigkeit wird oft als Ramsch zusammengefasst. Dieser zeigt sich als monotone Talk-Sendung, wenn im Sitzkreis Sätze über Buchcovers ausgespuckt werden, die man schlampig in die Kamera hält. 

Und er zeigt sich als gigantische Schütten, die in den Eingangsbereichen von Buchhandelsketten ausgelegt sind. Und er steckt schließlich auch in jenen versiegelten Thementaschen, die zur Zentralmatura in Deutsch österreichweit aufgerissen werden, um mit vorgefertigten Satzmodulen eine KI-generierte Zusammenfassung der Einheitsmeinung zu provozieren.

Florian Neuner liefert mit dem Genre Ungekürzte Ausgabe das volle Programm an Totalverramschung ab. Seinen Text könnte man als ultimativen Roman lesen, worin alle erdenklichen Floskeln zusammengetragen sind. Es könnte sich aber auch um einen Schelmenroman handeln, in dem die Literatur als Heldin sich selbst auf die Schaufel nimmt. Und für seriös angehauchte Gemüter ist dieses Erzählprojekt eine raffinierte Kritik am Literaturbetrieb, wie Paul Pechmann im Vorwort erläutert.

Das Buch ist aufgebaut wie eine Schreibwerkstatt für beliebige Texte. Die drei Kapitel stellen das notwendige Material für eine sinnbefreite Unterhaltung dar, als die Literatur mittlerweile praktiziert wird.

Das Inhaltsverzeichnis liest sich als Schmierzettel für eine groteske Schule der Dichtung, und wenn man in bewährter Weise die Anfangssätze jedes Kapitels herausstreicht, hat man das Handbuch der Totalverramschung nicht nur profund gelesen, sondern auch perfekt in die eigene Lektürepsyche eingebaut.


Die Totalverramschung als Lektüre-Inhalation:
[…]
I. Handlung //
Ramsch / Nach der Affäre mit einem verheirateten Mann nimmt sich die erfolgreiche Schauspielerin, die eigentlich in einem preisträchtigen Kostümfilm als Isabella I. von Kastilien vor der Kamera stehen sollte, eine Auszeit in Hamburg. Als sie kurz darauf schwanger wird, beginnt sie eine analytische Psychotherapie. (15)

Charme / Bis dahin mussten 47 Jahre vergehen. Aber noch haben wir es in der Hand. Eine junge Frau entsteigt dem Kofferraum. (27)

Marsch! / Alle Hoffnung auf Sinn ist vergeblich. Einen 15-jährigen Schiffsjungen langweilt das Leben in der kleinen Stadt. Ein spießiges Paar vertreibt sich die Langeweile durch Geisterbeschwörung. (43)

II. Figurenrede //
Scham / Alles hat sich verändert. Sagte er & suchte etwas auf einem Regal. (57)
Rasch! / Ich hoffe, du kannst gescheit saufen! Rief der Schweizer & hob dramatisch die Arme. (69)

III. Beschreibung //
Arsch / ein schwacher, beinahe Übelkeit erregender Geruch nach Essen (95)

Indem die Totalverramschung auf wenige Kernsätze eingedampft wird, entfaltet sie ungebremstes Wachstum des Erzählens. Denn die einzelnen Sätze bilden nach dem Hydraprinzip ununterbrochen kopflose Fügungen aus dem Satzkorpus und verschaffen dadurch dem Text ungebremste literarische Prosperität.

Die Theorie dieses explodierenden Trashs ist schließlich in zwei Postskripten verpackt.

Im ersten PS werden unter anderem drei Theoretiker des trashigen Erzählens angepeilt und zur Spende eines Zitats animiert.
Chris Bezzel: Der Roman ist primitiv, er ist die Akkumulation von Teilen.
Alexander Kluge: Das lineare Erzählen ist eine Ausnahme und eine Erfindung des 19. Jhds.
Christian Steinbacher: Die Neuverknüpfung der Fragmentteile entstellt Klischees zur Kenntlichkeit und schafft Sinngewinn durch Unfug.

Im zweiten PS wird darauf hingewiesen, dass der Roman in der hier publizierten Form selbst das Ergebnis von Zufällen und weit verstreuten Editionsmaßnahmen ist. Die Partikel sind als Erzählteile in den Literaturmarkt gesprayt worden und werden mit dem aktuellen Kompendium zu einem neuen Projekt zusammengewischt.

So ist das Vorwort von Paul Pechmann deshalb so überzeugend, weil es einst als Baustein für eine türkische Ausgabe konzipiert worden ist.

Florian Neuner sprüht und sprayt, was das Material hergibt. Zwischen Originaltext, Kopie und Mutation ist kein Unterschied. So wird auch jegliche Rezension über sein Buch zu Ramsch, sobald sie der Autor zu sehen bekommt.

Florian Neuner: Die endgültige Totalverramschung. Ungekürzte Ausgabe. Mit einem Vorwort von Paul Pechmann.
Klagenfurt: Ritter 2024. 119 Seiten. EUR 15,-. ISBN 978-3-85415-678-9.
Florian Neuner, geb. 1972 in Wels, lebt in Berlin und Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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