Hans Augustin bespricht:
Oliver Schlaudt
Zugemüllt – eine müllphilosophische Deutschlandreise

Eine Reise setzt im Normalfall eine gewisse Vorbereitung voraus. Da darf man in diesem Fall mit dem Zitat der ersten beiden Sätze im Klappentext beginnen: Menschheitsgeschichtlich haben wir den Punkt erreicht, an dem unser Müll überall ist und wir uns allmählich mit ihm selbst vergiften. Zugleich geben wir uns sehr viel Mühe, seine beunruhigende Allgegenwart aus unserem Gesichtsfeld zu verbannen.

Die Komplexität dieser Publikation – und das ist als Kompliment zu verstehen – erlaubt keine Fach-Rezension. Das wäre angesichts meines Wissens mehr als überheblich. Dazu fehlen mir die im Buch dargestellten profunden Kenntnisse der Müll- und Abfallwirtschaft. Ich habe mir das Buch mehr aus einem intuitiven Interesse – Müll ist nicht nur materiell zu verstehen, sondern auch spirituell – gekauft.

Ein willkürlich ausgewähltes Zitat möge hier als Orientierung dienen: Die Geschichte des Mülls ist der dunkle Zwilling des Fortschritts. Auch eine merklich poetische Diktion macht die Qualität dieses Reiseführers aus.

Zugemüllt – eine müllphilosophische Deutschlandreise von Oliver Schlaudt, Professor für Philosophie und Politische Ökonomie an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz, vermittelt dem Interessierten, der sich auf das Wagnis der (unverzichtbaren und unübersehbaren) Fülle von für das Verstehen entscheidenden Fakten einlässt, eine unerwartete Perspektive des Erbes menschlichen Handelns. Mit einem gigantischen Panorama an Unvorstellbarem und Folgen. (Der Anteil der Quellen ist beachtlich).

Die Reisebeschreibungen, für eine Neu-Orientierung, die Kenntnis der (vorsätzlich?) mangelhaften Vermittlung der Tatsachen durch die Medien (was ihre zentrale Aufgabe wäre), zeigen eine Gesellschaft, die sich für das Alles-ist-machbar entschieden hat. Manche Szenen perlen wie Prosecco in Bezug auf Zusammenhänge oder Namen von Personen, die die Geschichtsschreibung als vernachlässigbar erachtet hat – ein Napoleon ist allemal wichtiger als ein Justus Liebig!

Manche Zahlen verursachen Gänsehaut, das Unterbrechen der Lektüre und das In-die-Ferne-starren mit dem Gedanken: Wohin führt das noch alles? Wenn es erlaubt ist, historische Erlebnisberichte zu einem Vergleich heranzuziehen: Wenn nach der Plünderung von Teilen der Kontinente durch die Europäer Landschaften mehr als unfruchtbar sind, so breiten sich so etwas wie Entsetzen und Schamgefühl aus. Aber dass man damit aufhören sollte, das ist nicht am Bildschirm.

Touristen reisen nicht! Diese Aussage sei den meisten Touristikern ins Stammbuch geschrieben. Denn reisen bedeutet Vorbereitung und die würde mit diesem Wissen zum Storno der Reise führen. (Wer begibt sich freiwillig auf mit Plastik vermüllte Strände?)

Wenn das umweltpolitische Narrativ heute noch immer ist: das Müll- bzw. Abfallproblem in den Griff zu kriegen, wird klar, dass die Verursacher bzw. Verantwortlichen dieses Buch nicht gelesen haben; denn der Müll hat uns im Griff und das auf unbestimmte Zeit. Und nicht umgekehrt. Das Buch ist eine Propädeutik von Erklärungen von Gesetzen der Thermodynamik, Mikrobiologie, der Dialektik von Kot und Leben, einem seit der Existenz der Welt bestehenden Kreislauf, der eher an Bedeutung verliert denn gewinnt, und so säkular kann man gar nicht sein, um nicht etwas wie einen Schöpfungsplan zu vermuten, dem wir zunehmend entgleiten.

Es ist ein Aufzeigen der Relation von Galaxien und Bakterien im menschlichen Körper, was die Anzahl und Bedeutung betrifft, von Zusammenhängen und Kreisläufen und der erfolglosen Vermittlung, der Erkenntnis, wie wenig wir von Bakterien und ihrer Wechselwirkung wissen, als Voraussetzung den dztg. Lebensstil der sog. zivilisierten Welt zu beenden bzw. radikal zu ändern, je schneller umso besser, zum Wohl des gesamten Lebens auf diesem Planeten. Dieser Faszination kann man sich schwerlich entziehen. Denn andererseits leben wir nicht nur im sondern auch vom Dreck.

Nach der Lektüre wird Vieles relativ; selbst die Kunst, wobei Kunst im weitesten Sinn noch jener Bereich ist, in dem uns die fatale Gewissheit der Folgen unseres Tuns im Hinblick auf Müll in eine andere Dimension des Mensch-Seins führt. Und der Hinweis auf diverse kunsthistorische Werke des Menschen ist eine Art nostalgischer Trost in der Aussichtslosigkeit der Folgen menschlichen Handelns. Die mit Fotografien von arrangierten Szenen zeitgenössischer gesellschaftlicher Fehlentwicklungen von Swaantje Güntzel macht das Buch auch zu einem Kunstführer.

Allein die Tatsache des Müllproblems im Orbit, hinterlässt eine nicht einordenbare Verunsicherung. Manche Bezeichnungen von hochproblematischen Stoffen wie Mekoprop, Bentazon Dioxan oder Trioxan könnten Namen extraterrestrischer Planeten (oder von deren Monden) sein.

Abschließend sei dem Verlag für dieses Buch ausdrücklich gedankt. Es wird bedauerlicherweise nicht zur Pflichtlektüre angehender Ökonomen, Politiker bzw. Umweltminister avancieren. Aber man muss darauf hinweisen, dass die Lektüre dieses Buches dringlichst ist.

Oliver Schlaudt: Zugemüllt – eine müllphilosophische Deutschlandreise. C.H. Beck Verlag München 2004, 364 Seiten. 22,70 Euro.

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Hans Augustin

Hans Augustin, geb. 1949 in Salzburg/Stadt. Lebt seit 1976 in Tirol. Drucker und Verleger, Programm- und Sendungsgestalter und Kulturjournalist im ORF, Redakteur der Landw. Blätter d. Landwirtschaftskammer Tirol, verantwortlich für die Kulturprojekte der Landwirtschaftskammer Tirol. Zahlreiche literarische Arbeiten und Ausstellungen zum Thema “konkrete poesie“ (typopoetik). Letzte Publikation: „Als ich mit Z zu Abend aß“ – über den Herrn im Kreml, editon laurin, Innsbruck 2024. Auszeichungen: Kulturpreis der Stadt Innsbruck, Großes Literaturstipendium des Landes Tirol (Dramatik, 1991), Arbeitsstipendien des Landes Tirol und des BundesMinisteriums für Kunst.

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