Günther Aigner
Bergsommer
Vier Grad Erwärmung in 50 Jahren
Analyse

Für Schneeliebhaber, wie ich es einer bin, war der heurige Winter eine Enttäuschung. Zwar gab es viel Sonnenschein auf den Bergen, und damit viele großartige Skitage, aber die Schneedecke begann nie richtig zu wachsen. Ein Winter, der nie richtig begonnen hat, neigt sich jetzt im März dem Ende zu. Und somit wollen wir nach vorn blicken, zum nächsten Höhepunkt für Schneeliebhaber: auf den Gletschersommer.

Nach diesem ungewöhnlichen Winterhalbjahr, das ab dem 13. Oktober von einem außergewöhnlichen Niederschlagsdefizit geprägt war, sind auch hochalpin die Schneemengen weit unterdurchschnittlich. Ergiebige Schneefälle müssen von Mitte März bis Mitte Juni folgen, damit noch vor dem Beginn des Sommers die Gletscher eine schützende Schneeschicht aufweisen können. 

Denn die hochalpinen Sommer sind in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend heißer geworden. Immer schneller im Jahr schmelzen die winterlichen Schneereserven am Gletscher – und dann geht es an die Substanz: Es beginnt die Eisschmelze.

Schauen wir uns heute an, wie sich die hochalpinen Sommertemperaturen seit 1864 entwickelt haben. Wir blicken dazu auf den Säntis in der Schweiz mit seiner Bergwetterstation auf einer Seehöhe von 2.502 Metern. Der Säntis liegt nahe dem Rheintal in Grenzlage zu Österreich. Für Vorarlberg und Tirol sind die Temperaturentwicklungen am Säntis ein guter Referenzwert für die Veränderungen im heimischen Hochgebirge. Die Daten sind homogenisierte Messdaten der MeteoSchweiz.

 

 

 

Abbildung 1: Die Abweichung der Sommertemperaturen vom Mittel der Periode 1864 bis 2024 am Säntis (CH). Daten: MeteoSchweiz.

Im Chart sehen wir die gemittelte Sommertemperatur (Zeitraum: 01. Juni bis 31. August) jedes einzelnen Jahres seit 1864 und ihre Abweichung vom 161-jährigen Mittel. In der grünen Kurve, dem gleitenden 10-jährigen Mittel, können wir sehr gut die Veränderungen der Temperaturen nachvollziehen. Wir sehen die kühlen Sommer kurz nach dem Ende der Kleinen Eiszeit, schließlich die noch kühleren Sommer der 1910er-Jahre, welche den Alpengletschern große Massengewinne bescherten. Der kälteste Sommer seit der Kleinen Eiszeit war 1913. 

Chronikberichte beschreiben diesen Sommer so, wie wir aktuell viele Winter erleben: Noch bevor er richtig begann, war er schon wieder zu Ende. Der Sommer 1913 fand praktisch gar nicht statt. Und am Ende dieser kalten Phase konnten die Gletscher schließlich vorrücken. Man nennt dieses Phänomen den 1920er-Vorstoß.

Zum Zweiten Weltkrieg hin und in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden die Sommer wärmer und im Flachland nahm die Hitze zu. Ein vielen noch bekannter Niederländer hat diese üppigen Sommer sehr genossen: Rudi Carrell. Und dann sehen wir, warum Rudi 1975 seinen Frust heraussang: Die grüne Kurve fällt bis in die 1970er-Jahre hinein um etwa 1,5 Grad ab. Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? 

Zwischen ca. 1965 und ca. 1980 waren die Bergsommer feucht und kühl, hochalpin fiel viel Schnee, die Gletscher verbuchten positive Massenbilanzen und stießen am Ende dieser 15-jährigen Phase ein letztes Mal vor: das war der 1980er-Vorstoß

Kurz nachdem Rudi sein berühmtes Lied gesungen hatte, passierte ein Wunder: Es setzte eine unerwartete, heftige und langfristige Erwärmung ein. Rudis gesungene Frage hatte drastische Folgen: Die Sommer haben sich seither um knapp 4 Grad Celsius erwärmt. Um es statistisch konkret zu benennen: Die letzten 10 Sommer von 2015 bis 2024 waren im Mittel um 3,9 Grad Celsius wärmer als die 10 Sommer von 1972 bis 1981. Dieser Erwärmungstrend hat sich in den letzten 15 Jahren sogar beschleunigt.

Wenn man als grobe Faustregel annimmt, dass sich die hochalpine Schneegrenze am Ende des Sommers pro 1 Grad Celsius Erwärmung mittel- und langfristig um etwa 150 Höhenmeter nach oben schiebt, kann man schätzen: Die Schneegrenze am Ende des Sommers liegt heute im 10-Jahres-Mittel um 600 Höhenmeter über dem Niveau der Rudi-Carrell-Sommer.

Liefern wir ein konkretes Beispiel zu dieser Faustregel: Wenn sich damals auf einer ebenen Hochfläche auf 2.900 Metern Seehöhe am Ende des Sommers gerade noch etwas Schnee vom letzten Winter halten und zu Firn verwandeln konnte, so müsste man diese Hochfläche mittlerweile kräftig anheben – und zwar um etwa 600 Höhenmeter. Die Hochebene müsste heute also auf etwa 3.500 Meter Seehöhe liegen, damit sich Firn und später eben Eis bilden könnte.

Aus diesem Grund sind die Alpengletscher arg unter die Räder gekommen. Eisgrate und Eiswände sind in einem Rekordtempo abgetaut. In den vergangenen 5 Jahren sind viele Alpengletscher geradezu kollabiert. Im März 2025 liegt – wie eingangs bereits besprochen – sehr wenig Schnee auf den heimischen Gletschern, während der Sommer immer näher kommt. In den nächsten 3 Monaten braucht es noch viel hochalpinen Neuschnee, sonst bringt der Sommer 2025 die nächste gnadenlose Rasur.

 

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Günther Aigner

Günther Aigner (*1977 in Kitzbühel) ist der führende Experte in den Bereichen Skifahren und Skitourismus im deutschsprachigen Raum. Er gibt sein Wissen als Gastlektor an Hochschulen in Europa und Asien weiter. Außerdem nimmt er als Experte in den Medien am öffentlichen Diskurs teil. Als Keynote Speaker hält er Vorträge im In- und Ausland. Mit seinem 2013 gegründeten Unternehmen ZUKUNFT SKISPORT berät Aigner alpine Destinationen, Skigebiete sowie Hardware- (z. B. Seilbahnsysteme) und Softwarehersteller (z. B. Zutrittssysteme) und entwickelt Marketingstrategien für die Herausforderungen der Zukunft. Seine Arbeit dient als Bindeglied zwischen dem akademisch-wissenschaftlichen Denkraum und den alpintouristischen Praktikern. Günther Aigner hat an den Universitäten Innsbruck und New Orleans die Diplomstudien Wirtschaftspädagogik und Sportwissenschaften absolviert. Anschließend hat er das Wintermarketing von Kitzbühel / Tirol geleitet. 2021 ist er an die Uni Innsbruck zurückgekehrt, wo er als „PhD candidate“ (Doktorat „Management“) den Kreis zur akademischen Forschung schließt.

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