Friedrich Hahn
Wolfgangs Engel
Bericht

1
Der Mensch braucht Gesellschaft, um Mensch zu sein, sagt man. Wolfgang lebt allein. Er hat zwar eine Vertrauensperson, aber er kennt sie nicht persönlich. Er nennt diese Person Engel, Zeitungsengel: denn diese Person legt ihm Tag für Tag frühmorgens Zeitungen vor die Tür. Unentgeltlich, einfach so. 

Wolfgang räuspert sich, als wollte er eine große Rede halten. Es bleibt beim Räuspern. Wolfgang ist beunruhigt. Heute gab es keine Zeitungen. Er ist am Heimweg von der Trafik. Der Drang, nach Hause zu kommen, ist stark. So stark, dass er stehenbleibt. Wolfgang will endlich verstehen.

Das Verstehenwollen fühlt sich alt an. Älter als er selbst mit seinen 76 Jahren. So als hätten Geist und Körper nicht die gleiche Geschwindigkeit. Wolfgang stolpert, wie er so dasteht. Er sieht sich um. Aber nirgendwo ist eine Unwegsamkeit zu erkennen. Nirgendwo eine Baumwurzel, eine Stolperfalle. 

Wolfgang führt seinen Zustand auf seine ureigenste Natur zurück. Wo war ich doch gleich stehengeblieben (?), fragt er sich, und räuspert sich erneut. Gut, dass wir nicht zweimal leben. Wir würden vor lauter Zweifel und Vergleichen zu nichts kommen. Dann geht Wolfgang heim. Vor der Tür die Zeitungen. Der Zeitungsengel hatte Verspätung gehabt.

2
Es war ein kalter, früher Morgen, als Wolfgang plötzlich aufwachte und feststellte, dass sein linker Arm taub war. Als er seine Hände auf seiner Brust verschränkt sah, überkam ihn ein Schauer. Es fühlte sich an, als würde er da als Toter aufgebahrt liegen.

Wolfgangs Gedanken kreisten wild in seinem Kopf, doch nicht alles, was er dort fand, war ein konkreter Gedanke. Die Verbindung zur Sprache war ihm in diesem Moment bewusst, wie eng sie mit ihm verbunden war. Es war fast so, als ob kein Blatt Papier dazwischen passte. Kein Blatt Papier? Worauf aber sollte er dies hier schreiben?

Wolfgang sehnte sich nach jemandem, der ihm helfen könnte, diese seltsamen Vorkommnisse zu einem zusammenhängenden Text zu formen. Jemand, der die rätselhaften Elemente seines Erwachens, seiner Gedankenschleifen und seiner engen Verbindung zur Sprache, zu einer Geschichte hätte verweben können.

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Hahn Friedrich

Geboren 1952 im Waldviertel / NÖ, schreibt und veröffentlicht seit 1969. 54 Bücher mit Lyrik, Prosa sowie 20 Arbeiten für den Rundfunk und für die Bühne (zuletzt „im rücken des schattens“, die rampe, Stuttgart 2004). Performances (u. a. im Centre George Pompidou/Paris im Rahmen der Polyphonix), Ausstellungen und Kataloge (u. a. „remakes“: Museum Moderner Kunst/Wien, „unterm strich“: Galerie Eichgraben, „allerhand hahn“: CA-Galerie im TZ). Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung und des Literaturkreises "Podium". Lebt in Wien/Alsergrund. www.literaturhahn.at

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