Elias Schneitter
Die Schule / Die Großmutter
Zwei Gedichte
Die Großmutter
Wenn in unserem Ort die Totenglocken
läuteten, dann ging meine Großmutter
immer in ihren Blumengarten hinaus,
um von einem Vorbeikommenden zu erfahren,
wer gestorben war.
Wenn sie es wußte, sagte sie jedesmal:
Er hats überstanden.
War’s noch jemand Junger,
dann meinte sie: Wer weiß, was ihm nicht
alles erspart blieb.
Meine Großmutter war eine
tief verletzte Seele, die ablehnend
und mißtrauisch gegen alles
und jedermann war.
Oft kam sie mir wie eine offene
Wunde vor, aus der es ständig eiterte.
Ihr Schicksal und ihre Vergangenheit
lasteten schwer auf ihr.
Sobald sie sich zurückerinnerte,
fühlte sie sich betrogen und hintergangen.
Die Reste ihrer Zuneigung
gehörten ihrem Blumengarten,
dem Königswein auf der Kredenz,
der Zimmerlinde und dem Gummibaum
in der Stube.
Sorgfältig säuberte sie die Blätter
vom Staub und sie unterhielt sich mit ihren
Pflanzen wie mit Verbündeten.
Es tat ihr wohl, wenn sie sich
über Witwen lustig machte, die sich
noch einmal mit Männern einließen,
oder wenn sie über die Ehefrau
des Hausarztes herzog,
weil sich diese mit Frau Doktor ansprechen ließ,
obwohl sie ja gar keine richtige Doktorin
war.
Mit Gießkanne, Kerzen und Blumenstöcken
machten wir uns jede Woche auf den Weg
zur Grabstatt meines Großvaters.
Sehr genau inspizierte sie den Friedhof,
und wenn wir unsere Arbeit erledigt hatten,
beteten wir jedesmal ein Vater unser
für unseren Großvater.
Auf dem Nachhauseweg mokierte
sie sich dann immer über all jene,
die ihre Grabstätten vernachlässigten und
nicht in Ordnung hielten.
Als meine Großmutter zu
kränkeln anfing, verließ sie
kaum noch das Haus. Ihre Kinder
ließen bei ihr – für alle Fälle –
ein Telefon installieren.
Und immer, wenn meine Großmutter
die Totenglocke hörte,
rief sie im Widum an
und erkundigte sich
wer gestorben war.
Die Schule
Als wir in die Schule kamen,
wurden die Linkshänder noch angehalten
mit der richtigen Hand zu schreiben.
Die ersten Jahre hatten wir eine
gute, dicke Klosterschwester
als Lehrerin, die mir jeden Freitag
mit heiligem Wasser aus Lourdes
meine schlechten Augen einrieb.
Der Weg in den Himmel,
erklärte sie uns,
führe nur über eine gefüllte
Registrierkassa, in die
für jede gute Tat eine Münze fiel.
Wir waren wohlerzogene Landkinder,
die jedermann grüßten,
wenn wir einmal mit unseren Tanten und
Großmüttern in die Stadt kamen.
Der Schuldirektor brachte uns das
Singen bei. Er schlug uns mit dem
Geigenbogen und starb an Leberzirrhose.
Im Winter, wenn es heftig schneite,
drückten wir unsere Nasen
an den Fensterscheiben platt
und schauten solange in das Schnee-
gestöber, bis wir glaubten
in die Höhe zu fliegen.
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