Elias Schneitter
Besuch bei der Dichterin
Poem
Sie lebte in der Innenstadt und bei jedem Telefonat
lud sie mich zu sich in die Wohnung ein.
Ich fuhr mit der U3 zum Stephansplatz,
von da musste ich zum Hohen Markt,
dann bis zur Marc Aurel Straße
von dort links in die Sterngasse, daraufhin
wieder links, nein falsch, rechts in die
Fischerstiege 4–8 in den Innenhof.
Vorn beim großen Tor musste ich läuten,
ihr Name ist dort angegeben, dann hinein
in den Hof zur Stiege 1, dann noch einmal läuten.
Das Schild ist etwas vergilbt,
aber man kann den Namen gerade noch lesen.
Seit Monaten möchte sie von der
Hausverwaltung ein neues Namensschild,
aber völlig vergeblich ihre Versuche.
In den vierten Stock führt dann
ein Lift
und oben gleich rechts die erste Tür,
da würde sie auf mich warten.
So beschrieb sie mir am Telefon
den Weg zu ihr.
Ihre Wohnung ist klein, Gemeindebau.
Alles ist ordentlich und sauber aufgeräumt.
Wir setzen uns an ihren Esstisch
und zur Begrüßung liest sie mir einige
Gedichte vor, die sie in Hefte schreibt.
Ich schätze ihre Arbeiten sehr,
ihre Miniaturen, ihre Kurzprosa.
Ausgerechnet am heutigen Tag hat sie
die Nachricht bekommen, dass ein
polnischer Verlag
Gedichte von ihr übersetzen lassen
und herausbringen will.
Zum Trinken bietet sie mir ein Bier an.
Ohne Glas, ich trinke es aus der Flasche.
Sie trinkt auch Bier, aber aus der Dose.
Diese hat sie in der Küche stehen.
Sie geht immer dorthin,
um Bier nachzugießen,
das sie aus einem Kaffeehäferl trinkt.
Auf dem Weg in die Küche
kommt sie an ihren beiden Altären vorbei.
Einer für ihre große Liebe,
Manfred, der sich vor mehr als zwanzig Jahren
bei einer Wirtshausschlägerei tödliche Verletzungen
zugezogen hat.
Er verblutete in seiner Wohnung
mit dem Telefonhörer in der Hand.
Der andere erinnert an ihre Freundin,
die vor sechs Jahren verstorben ist.
Sie fehlt mir sehr, sagt die Dichterin,
ebenso wie Manfred.
Mit Manfred hatte sie sehr viel gestritten.
Betrunken war er oft sehr aggressiv,
sodass sie alle Messer versteckte, bevor er
nach Hause kam. Trotzdem: sie konnten
nicht miteinander und auch nicht ohne
einander.
Die Freundin hat sie immer getröstet.
Komm, sagte sie stets, nimm das
nicht so tragisch.
In den Vasen vor den Altären
waren keine Blumen drinnen.
Im Geschäft hatte sie einen Strauß
gekauft, aber auf dem Heimweg irgendwo
verloren.
Ich und die Dichterin unterhielten
uns prächtig. Zwischendurch las sie mir
immer wieder Gedichte vor, ihre unglückliche
Kindheit, ihre kalte Mutter und der Vater,
der sie als Kleinkind verlassen hatte.
Als es draußen dunkel wurde,
entschlossen wir, etwas essen zu gehen.
Ins Salzamt.
Sie zog sich für den Ausgang an.
Eine grellrote Hose und einen tiefblauen Mantel.
Diesen hatte sie von Elfriede Gerstl bekommen.
So ein Blau gibt es in der Wirklichkeit gar nicht,
lachte sie, so blau ist nur noch die Blume der
Romantiker.
Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.
Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen