Egyd Gstättner
Oh wie ist das schön!
Der Österreichische Nationalorgasmus von Berlin
Reportage

Am Vormittag des Matchtags ist das Brandenburger Tor, wo sich viele österreichische und polnische Fans tummeln noch großräumig umzäunt und weggesperrt – also schlendern wir weiter zum Reichstag – auch dort wird abends eine Fan-Zone aufgemacht. 

Daneben eine Gedenkgalerie für an der ehemaligen Mauer zu Tode Gekommene. Ein Mann (mit Frau und Kinderwagen) bekreuzigt sich. In den Souvenirgeschäften werden noch immer Ansichtskarten mit Mauerbröseln verkauft, außerdem die zungenküssenden Breschnew und Honegger. So viele Mauerbrösel kann nicht einmal die Chinesische Mauer haben – außerdem: Was genau macht man im heimischen Wohnzimmer mit Berliner Mauerbröseln? Aber Wall sells, wahrscheinlich wird man in Berlin noch in tausend Jahren mythische Mauerbrösel verkaufen – die Authentizität lässt sich ja schwer nachprüfen…

Dem Reichstag schräg gegenüber eine ziemlich lächerliche und groteske grelltürkise Hitlerfigur in Pumphosen und Militärmütze, mit in die Hüften gestemmten Fäusten. Der eine oder andere Tourist lässt sich mit dem türkisen Typen fotografieren und wirft dafür einen Euro in den Becher. Mühsam nährt sich das Adi-Eichhörnchen! 

Am Schiffbauerdamm ins (altehrwürdige) Berliner Ensemble hineingeschaut, wo ich vor einem Vierteljahrhundert Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen gesehen habe; dann ein Foto mit Bert Brecht gemacht, der noch immer alleine am Vorplatz sitzt. Der Nachname am Wegweiser Bert Brecht-Platz ist überklebt. Eigentlich sollte man Helene Weigel, die rote Ruth und die anderen Mitarbeiterinnen (um den Katia-Mann Begriff Zubehör zu vermeiden) zu ihrem tyrannischen Boss setzen und das Denkmal-Ensemble Neigungsgruppe Episches Theater nennen. 

Spaß mit einer alten Berlinerin. Anyway. In der Berliner Republik (Die Hauptstadtkneipe) die lang ersehnten Königsberger Klopse! N`etait pas mal! Auf der Toilette der Hauptstadtkneipe Spontisprüche: Ich verspreche nichts, und das halte ich auch / Mea vulva, mea maxima vulva / Mach`s mit der Zunge, dann gibt es keine Junge / Berlin ohne Graffiti ist München. 

Die Graffitis sind aber nicht echt und authentisch und sozusagen gewachsen, sondern designed. Souvenirs und ein Erdbeertörtchen gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio besorgt (auch einer meiner Berliner Lebensschauplätze, gemeinsam mit Stefan 2008). Am Pariser Platz haben inzwischen eindeutig die Polen das Kommando übernommen. Ein Warschauer Winnetou plärrt auf dem Podium die Masse aufpeitschend in sein Megaphon und tanzt einen alten Kriegstanz. Junge Polinnen in kurzen Röckchen mit langen Beinchen mit Malkästchen und Pinsel in der Hand kriegsbemalen polnische Kinderwangen. Auch mich hätte beinahe so eine Schönheit (with some Flowers in her hair) bemalt – rotweiß oder rotweißrot macht ja technisch nicht gar so viel Unterschied, allein ich dankte (Thomas Mann), man will ja nicht so sein. Und ich bin ja auch nicht so. 

Später erwischte uns eine Tirolösterreicherin in einem Gastgarten und rotweißrotete unsere Wangen doch – man will ja nicht so sein in der Fremde…

Endlich! Finalmente! Berlin von Österreich besetzt! Berlin voller Österreicher! Noch nie waren so viele Österreicher gleichzeitig in Berlin – jedenfalls seit Menschengedenken nicht! Dreißigtausend, vielleicht sogar vierzigtausend, eng beieinander. Die Österreicher kommen aus allen Ecken und Enden und Bundesländern. Es sind Steirer, Oberösterreicher, Tiroler, auch Salzburger, Kärntner, Niederösterreicher, Burgenländer, sogar Vorarlberger (als Weihnachtsmänner verkleidet) und Wiener. Es sind Menschen jeglichen Alters und beiderlei Geschlechts, wenn auch zu 90 % Männer. 

Zu erkennen sind die Österreicher leicht: sie tragen alle rote Shirts (mit dem Bundesadler auf der Brust) – seit der roten Armee war keine solche rote Armee mehr in Berlin. Am Rücken der Shirts stehen Pseudonyme und Künstlernamen wie Baumgartner, Laimer, Sabitzer, Arnautovic manchmal auch Namen die niemand kennt, das sind die eigenen. Auch Namen aus der jüngeren oder ferneren Geschichte, z. B. Alaba, Herzog, Polster

Zur Standardausrüstung des Überösterreichers gehört aber nicht nur das rote Dress, sondern auch die Krachlederhose darunter. (Deren Absenz unterscheidet uns, C und mich, vom Volk). Immer wieder mischt sich auch eine gewisse Melissa Naschenweng ins Drumherum-Geschehen. Sie ist, soviel ich weiß, das Gspusi von Ralf Rangnick. Aber das ist natürlich streng geheim und bleibt unter uns! Aber woher – aus welchem der schönen Bundesländer – die Überösterreicher auch kommen mögen, sehr schnell erkennt man – und man ist angesichts dessen, was man von zu Hause in der alten Heimat gewohnt ist, zutiefst erstaunt: Keine*r von all den vierzigtausend Ösis hat Migrationshintergrund. Kein einziger Nigeriaösterreicher, kein Syrienösterreicher, kein Afghanistanösterreicher, im Grund nicht einmal Deutschösterreicher, Türkeiösterreicher, Kroatienösterreicher, Serbienösterreicher. Die hier, das sind alles Österreicher, die früher einmal Schi gefahren sind, als das noch möglich war. Schifoarn is dos Laivandste, wos ma sich nur vurstölln kohon… aber leider, leider…

Erst im Ausland und zu Vierzigtausend wird der Österreicher so richtig zum Österreicher, zu einer Art Überösterreicher gewissermaßen, glückseliger Masseösterreicher in der Österreichmasse, Österreicher an der Spree, das ist ein eigenes Wesen, das man an der Donau, dem Inn, der Salzach, der Mur oder der Drau nicht findet. 

Die Rotweißroten auf den Ausflugsschiffen auf der Spree winken den Rotweißroten am Ufer, am Schiffbauerdamm zu, die in der Ständigen Vertretung oder in der Berliner Republik (Hauptstadthafenkneipen) Buletten, Königsberger Klopse mit roten Beeten oder Eisbein essen, und die winken mit vollem Mund enthusiastisch zurück. Freundlichkeiten, Solidarität, Amikalität, geradezu Geborgenheit. Erst wenn zwei solche Überösterreicher zufällig gleichzeitig den Hotellift betreten und 10 Stockwerke zusammen fahren müssen, merken sie schlagartig, dass sie sich eigentlich rein gar nichts zu sagen haben, und wie völlig fremd sie einander sind, weil sie einander ja wirklich völlig fremd sind, und sie schweigen peinlich und betreten. Singen soll man in einer Hotelliftkabine bekanntlich nicht.

Nun, sind schon vierzigtausend in die Berliner Innenstadt geschüttete Überösterreicher eindrucksvoll, so erst vierzigtausend in die Berliner U2 gequetschte Überösterreicher und vierzigtausend in die Tribünen des gewaltigen Berliner Olympiastadions gepresste Überösterreicher. Vierzigtausend Österreicher in einem prall gefüllten Stadion sind also ein eigenes Wesen, auch wenn es sich womöglich aus nicht gar so individuellen Individuen zusammensetzt! 

Wir singen: rot. Wir singen: weiß. Wir singen rot-weiß-Österreich. (Was wollen wir damit sagen? Wer das wüsste! Wer sind wir überhaupt? Sind wir wir? Ja, wir sind wir. Die anderen sind die Polen. Die Polen singen: rot. Die Polen singen: weiß. Die Polen singen: Rot-weiß-Polen. Was wollen uns die Polen damit sagen? Ach, egal! Noch ist Polen nicht verloren! Polen ist auch so ein Überwesen, aus vierzigtausend zusammengesetzt. Übrigens spielt Österreich diesmal in rot-schwarz, weil Polen in weiß-weiß spielt. Wer nicht singt, der ist ein Pole! Die Polen singen übrigens in derselben Melodie, im selben Takt einen Choral auf polnisch – also unverständlicher Text – , aber mein kritisches Bewusstsein lässt mich glauben, dass der polnische Text bedeuten könnte: Wer nicht singt, der ist ein Österreicher!

Immer wieder! Immer wieder! Immer wieder Österreich! Wir singen: rot. Wir singen: weiß. Ich weiß, ich weiß… eine Dreiviertelstunde braucht die U vom Zentrum (Spittelmarkt) hinaus ins bombastische Elysium. Jedenfalls: Vierzigtausend im Berliner Olympiastadion zusammengepferchte Österreicher, das ergibt ein Nationalgewitter, einen Nationalwolkenbruch, den ultimativen, absoluten Nationalorgasmus. Wollt ihr den totalen Triumph? Bella gerant alii, tu felix Austria lude! Einmal so vollständig in einem größeren Ganzen aufgehen zu können und eine gewisse Überbedeutung frei Haus geliefert zu bekommen! Glückselige Wiedervereinigung von Es und Über-Ich, österreichisch gesprochen… (Wer von allen würde das hier so treffend formulieren können?) So ein Krieg ist schon etwas sehr Schönes, wenn man ihn so kompakt, komprimiert und unblutig haben kann! So ein Krieg, so wunderschön wie heute, so ein Kriiieg, der dürfte nieeee vergehn!

Auf den Radetzkymarsch hat man in Berlin gepfiffen, aber den Fendrichschmachtmarsch hat man gespielt, Rainhard Fendrich, dem mythischen Gründer der Österreichischen Nation, hat man gehuldigt. Dabei spaltet er die Nation (im Verhältnis 39.999 : 1). Bei den einen weckt er patriotische Weihnachtsgefühle (Apfel, Stamm, Gletscher im Aprüü, do komma sogn wos ma wüü…) bei den anderen Brechreiz. Ich bin der andere. 

Wer ziagt no den Huat vor dir? Die Kopfbedeckungen der Fans im Stadion sind übrigens die lächerlichsten. Wer ziagt no die Faschingsscherzartikel vor dir – außer ihm? I kenn die Leit, i kenn die Rotten. Nanana! Was will uns der zugekokste Barde damit sagen? Do kum i her, do gher i hin – ein korrektpolitisch völlig inakzeptabler Vers übrigens… aber wie beobachtet und gesagt… kein Slogan für Österreicher mit Migrationshintergrund. 

Es ist mir ein wenig peinlich, das zu notieren: Aber von den vielen eindrucksvollen Stadien, die ich in meinem Leben mit eigenen Augen gesehen habe, ist das Olympiastadion in Berlin vielleicht das eindrucksvollste, landschaftsplanerisch wie architektonisch: Die U-bahnstation, ein kurzer Marsch durch ein Wäldchen, und dann schlagartig die Weite! Die Türme! Die Olympischen Ringe! Das gewaltige Naturstein-Oval. Das gigantische Innere mit der Öffnung (dem Fluchtweg) hinter einem der beiden Tore. 

Ich konnte mich drei Stunden lang nicht sattsehen. Natürlich kann man nicht nicht an seine Geschichte denken! Wer hier Politik gemacht hat! Wer hier was gebrüllt hat! Was daraus geworden ist! Jedenfalls musste ich schmunzeln, als hier ausgerechnet die polnische Hymne erklang. Der junge Pole neben mir sang begeistert mit und filmte und ruderte und fuchtelte mit seinen Armen vor meinem Gesicht. Herdentier unter Herdentieren zweier Länder…

Man bekommt live vor Ort viel mehr von der einzigartigen Stimmung, von der Atmosphäre – vom Spiel dagegen deutlich weniger mit als vor dem Fernseher – die Spieler sind weiter weg und dementsprechend kleiner; es gibt keine Großaufnahmen und keine Wiederholungen in Zeitlupe (außer eben auf der großen Vidi-Wall auf der Gegentribüne, aber die ist auch weit, weit entfernt…) Ständig springen die Alabas und Arnautovic`s in der Reihe vor einem auf, sodass man trotz Sitzplatzes im Grund immer stehen muss, will man überhaupt etwas sehen. Und für die hinter mir gilt natürlich dasselbe.

Auf alle Fälle endete die Geschichte (ausnahmsweise) im Triumph: SIEG! SIEG! SIEG! Trauner! Baumgartner! Arnautovic! Arnautovic lässt sich hervorragend skandieren, Trauner auch. Bei Christoph Baumgartner ist das ohne Verletzung des metrischen Gefühls schon ziemlich schwierig. Aber skandieren Sie einmal Pentz! Unmöglich! Da ist der fanatischste Fan überfordert! Jedenfalls: Jetzt war Polen verloren, da half alles und auch Lewandowski nichts! Who the fuck was Lewandowski?

Wenn man gewinnt, macht so eine nationale Erhebung in der Ferne gleich noch einmal so viel Spaß. Da sagt es sich gleich weltmännischer Wir, denn in diesem Wir stecke ja auch ich, siehe mein Name auf meinem Rücken! Gleichzeitig mischt sich in meinen Anteil des Nationalorgasmus aber auch eine gewisse Ernüchterung und Enttäuschung, denn der Nationalorgasmus entlarvt erst so richtig das Stereotyp des Paradieses und Standardisierte des Elysiums. 

Für alle möglichen Triumphe steht immer nur derselbe vorgestanzte Text zur Verfügung. Wie aus einer Kehle und Seele singen vierzigtausend Kehlen und Seelen wie bei einem bedingten Reflex (auch etwas Österreichisches!) vorschriftsmäßig ein dünnes Siegerlied, das außer dem Allerweltadjektiv schön inhaltlich genau nichts zu bieten hat: Oh wie ist das schön! Oh wie ist das schön! Sowas hat man lange nicht geseh`n – so schön! So schöön!

Beim nächsten Mal wird irgendein anderer irgendetwas anderes gewinnen, und er wird genau dasselbe singen. Oh wie ist das schön! Da fragt man sich doch: Was? Das soll schon alles gewesen sein?

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Egyd Gstättner

Egyd Gstättner (* 25. Mai 1962 in Klagenfurt) ist ein österreichischer Publizist und Schriftsteller. Egyd Gstättner studierte an der Universität Klagenfurt Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Germanistik. Schon während des Studiums begann er mit Veröffentlichungen in Zeitschriften wie manuskripte, protokolle, Literatur und Kritik oder Wiener Journal. Seit seiner Sponsion 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Klagenfurt, wo er zahlreiche Essays u. a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Presse, Falter, Kurier und Die Furche verfasste. Besonders bekannt wurde er im Süden Österreichs mit seinen Satiren in der Kleinen Zeitung. Darüber hinaus schrieb und gestaltete er Features für die Österreichischen Radioprogramme Ö1 und Radio Kärnten sowie für den Bayerischen Rundfunk.1993 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1990 erschien die erste eigenständige Buchpublikation („Herder, Frauendienst“ in der „Salzburger AV Edition“). Bis 2018 wurden insgesamt 34 Bücher Gstättners bei Zsolnay, Amalthea, in der Edition Atelier und seit 2008 im Picus Verlag Wien publiziert. Seit 2016 hat er einen zweiten Wohnsitz in Wien. Gstättner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

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