Egyd Gstättner
Der Geistreichler
Oder:
Wie man eine Forelle mit der Hand fängt.
Eine Würdigung Alfred Polgars
anlässlich seines 70. Todestags

1. Alfred Polgar geistreichelte. Vielleicht geistreichelte niemand so geistreich wie Polgar, auch Anton Kuh nicht, von dem das Verb geistreicheln stammt. Kuh nannte Polgar ein Mausoleum der Nuancen: Kompliment und Magenstrudel in einem. Geistreicheln ist lebensfüllend, aber nicht abendfüllend. Viele, die platter und produktiver waren als er, geistreichelte Polgar erbarmungslos in Grund und Boden, allerdings war er selber eher unproduktiv. Alfred Polgar hat nie einen Roman geschrieben.

Trotz latenten Geistreichtums fiel Alfred Polgar in der vierten Klasse des Gymnasiums durch und hat nie die Matura abgelegt. Übrigens ist auch Thomas Mann durchgefallen und hat nie das Abitur gemacht. So und nicht anders wird man geistreich. 

Polgar hatte eine Aversion gegen Schnitzler und war dessen boshaftester Kritiker. Umgekehrt schrieb Schnitzler über Polgar Lausbübereien gegen die Wiener Dichter natürlich ohne Namensnennung. Man spürt – das ist ihm doch immer das wichtigste. Was für ein kläglicher Geselle. Das Ungenügen an sich selbst diagnostizierte Dr. Schnitzler bei Polgar, die Unfähigkeit zur eigenen kreativen Leistung sei das Hauptmotiv, andere, Schöpferische mit abgründiger Bosheit zu verfolgen. 

Und solch tröstliche Erklärung – so Polgars Biograph Ulrich Weinzierl – gab er nicht nur sich, sondern auch anderen von Polgars ‚Perfidie‘ Betroffenen wie Richard Beer-Hofmann, dem er einen veritablen Kondolzenbrief anlässlich einer Polgar-Kritik schrieb, oder Hermann Sudermann, dem gegenüber Schnitzler Polgar ein ‚neidzerfressenes wanzenhaftes Subjekt‘ nannte.

Die Polgar-Gemeinde bestand anfangs hauptsächlich aus der aufsässigen Jugend. 1911 billigte ihm die Karlsbader Zeitung die Stellung des besten Kritikers von Wien zu. Der sich so dezidiert und noch dazu im Blatt des Herrn Papa zu Polgar bekannte, war ein völlig unbekannter junger Mann: Walter Serner.


2. Die beiden Hauptfrauen Alfred Polgars hießen Ea von Allesch und Marlene Dietrich. Aber es waren dennoch nur Nebenfrauen – oder besser umgekehrt: Er ein Nebenmann. Er geistreichelte ihnen zu viel.

Dass die Kaffeehausmaus Emma Rudolf, die aus ihrem Vornamen mutwillig beide m herauspresste, weil ihr ein Vorname, der ohne jeden Konsonanten das Auslangen findet, auch wenn er insgesamt nur zwei jämmerliche Buchstaben umfasst, mondän vorkam, dass also diese Ea spätere von Allesch aus Polgars Sicht wenn schon nicht das höchste, so das liebste Wesen war, bei dem ihm seine lebenserhaltende Ironie, alles Lachen über die tragischen Dummheiten und über die dummen Tragödien des Lebens abhanden kamen, wie er ihr (bereits im Juli 1899) aus der Sommerfrische in Prein an der Rax eröffnete, ist privat. 

In Eas Nähe nannte sich der beste Kritiker von Wien mit Vorliebe Archibald Douglas. Arthur Schnitzler nannte Ea von Allesch die sogenannte Wasserleiche. Auch das hat Polgar Schnitzler nie verziehen. Dichter untereinander: Schlimmer geht es kaum. In den Jahren 1903 bis 1906 bewohnte Archibald Douglas gemeinsam mit dem englischen Pianisten Henry James Skeene und der Wasserleiche Ea eine alte Villa in der Döblinger Armbrustergasse. Was die drei dort trieben, ist privat. Was sie nicht trieben, ist auch privat. Der englische Pianist fiel im Ersten Weltkrieg. Ea starb im Armenhaus. Polgar überlebte beide.

3. Polgar hat viel Gutes, Schönes, Wahres über andere gesagt, wenn es sein musste auch viel Ungutes, Unschönes, aber immer Wahres. Es musste oft sein. Aber es reichte nicht zu einer Geschichte, zu einem Plot, zu einer großen Geschichte, zu einem Roman, in dem sich das Gute, Ungute, Schöne, Unschöne, Wahre seiner Zeit und Zeitgenossen spiegeln hätte können. Immer waren gleich die Apercus da.

Als er am 23. Oktober 1929 Elise Loewy heiratete, war er bereits 56 Jahre alt. Man behielt aber auch nach der Hochzeit die getrennten Wohnungen bei: Sie, Lisl Polgar, Private, blieb in der Dorotheergasse, er, wenige Schritte entfernt, in der Stallburggasse in einer Mansarde hoch über dem Bräunerhof.

Der Schöpfer des Austrofaschismus Engelbert Dollfuß wohnte im selben Haus wie Polgar in der Stallburggasse 2. Man sah sich beim Kommen und Gehen; vielleicht grüßte man sich. Das war`s aber auch schon. Als Bundeskanzler Dollfuß 1934 mithilfe der Heimwehren die Sozialdemokratie brutal zerschlug, war Polgar aber nicht in Wien, sondern in Zürich. 

Später wurde Dollfuß bei einem Attentat ermordet – der Putsch der Nationalsozialisten wurde aber niedergeschlagen und Polgar schrieb keinen Roman darüber. Sein Entwurf für einen Roman über das Leben Homers lag beim Amsterdamer Exil-Verlag Allert de Lange. Aber es wurde nichts daraus.

4.  Mehrere Possen, Petitessen, Dramolette schrieben Alfred Polgar und Egon Friedell gemeinsam. Das funktionierte meistens so, dass Polgar den komplett betrunkenen Friedell mitten in der Nacht, wenn alle Lokale Sperrstunde hatten, heim zu ihm in die Gentzgasse schleppte und den Zweihundertkilomann ächzend, stöhnend auf den Divan wuchtete, wo Friedell gegen Schluckauf ankämpfend die Inhaltsangabe äußerte: Goethe erscheint einem verzweifelten Studenten, der eine Prüfung über Goethe ablegen soll. Goethe hilft ihm, indem er die Prüfung über sich selbst selbst ablegt, dabei bei der gestrengen Kommission aber hochkant durchfällt. 

Damit ist Friedell auch schon eingeschlafen und schnarcht das Schnarchen des Gerechten, während Polgar die ganze Nacht fleißig die Dialoge drechselt und schreibt und schreibt, und als Friedell am Morgen aufwacht, ist ihr gemeinsames Stück Goethe im Examen fertig. 

Das Dramolett wurde im Kabarett Fledermaus (Ecke Kärntnerstraße/Johannesgasse) dreißig Jahre lang – bis 14 Tage vor Friedells Tod – an die 700mal gegeben: Friedell verkörperte Abend für Abend die Hauptrolle Goethe und konnte auf diese Weise auch seiner großen Liebe Lina Loos, die die Rolle des Linnerls (die Freundin des armen Studenten) spielte, gewissermaßen gegen ihren Willen Abend für Abend nahe sein, jedenfalls, solang sie jung und schön war. (Das ist das Geniale an der Kunst). 

Später saß Lina Loos bei den Vorstellungen nur noch im Publikum, während das Linnerl von einer neuen schönen Jungen auf der Bühne interpretiert wurde. Friedell blieb bis zum bitteren Ende immer der gleiche, immer Friedell und immer Goethe – und immer auf der Bühne. 

Für sich selbst schrieb Alfred Polgar aus lauter Bescheidenheit keine Rolle ins Stück hinein, nicht einmal die des Eckermann. Heute ist die Goetheperücke Friedells im Literaturmuseum der Nationalbibliothek nur ein paar Schritte weiter in einer Glasvitrine ausgestellt. Und von Polgar? Nichts.

Dass sein ehemaliger Kompagnon Friedell in der Nacht nach dem Anschluss Österreichs an das dritte Reich auf der Flucht vor der SA aus einem Fenster seiner Wohnung in der Gentzgasse sprang und zu Tode stürzte, hat Alfred Polgar nicht in einem Roman verarbeitet, dabei wäre das wirklich auf der Hand gelegen. Von der Tragik einmal abgesehen: Welch dramatische Möglichkeiten!

5. Das gefährlichste Abenteuer im Leben Alfred Polgars war vermutlich die Überquerung der Pyrenäen auf der Flucht vor den Nazis. Aber niemand weiß davon. Die Überquerung der Pyrenäen durch Franz Werfel kennt jeder. Die Überquerung der Pyrenäen durch Alma Mahler-Werfel kennt jeder. Die Überquerung der Pyrenäen durch Heinrich und Nelly und Golo Mann kennt jeder. Die Überquerung der Pyrenäen durch Alfred Polgar kennt niemand – dabei war es ein und dieselbe Überquerung. 

Um Heinrich Mann sorgte man sich, weil er so alt war. Um Franz Werfel sorgte man sich, weil er so dick war. Und so herzkrank. Um Alfred Polgar sorgte man sich nicht gar so, weil die Pyrenäen an der Stelle bloß siebenhundert Meter hoch waren. 

Ob Alfred Polgar bei der Überquerung der Pyrenäen gegeistreichelt hat, weiß man nicht, obwohl es so viele Zeugen gab – Heinrich, Nelly, Golo, Franz und Alma – aber niemand hat etwas gehört oder gesehen: Alle waren ausschließlich mit sich selbst beschäftigt während der Überquerung der Pyrenäen, und vor der Überquerung der Pyrenäen und nach der Überquerung der Pyrenäen. 

Dass Alfred Polgar die Pyrenäen eigenbeinig überquert hat, weiß man zumindest, denn sonst wäre er nicht nach Lissabon und nicht nach Amerika gekommen und hätte dort nicht Marlene Dietrich getroffen. Dazu hier später mehr. Alfred Polgar hat keinen Roman über die Überquerung der Pyrenäen geschrieben, obwohl er selbst dabei war.

6. Thomas Mann notierte in sein Tagebuch am 6. April 1955: Zum Thee der geistreiche Schriftsteller Polgar mit Frau. Der geistreiche Schriftsteller Polgar war 82 und hatte von diesem Tag weg noch 18 Tage zu leben. Thomas Mann übrigens noch 4 Monate und 6 Tage.

7. Der geplante Homer-Roman machte in der Zwischenzeit nur geringe Fortschritte, die Widerstände, die ihm die epische Großform entgegensetzte, wurden dem Autor bereits im Anfangsstadium der Arbeit schmerzhaft deutlich: Ich kann keine ‚Handlung‘ erfinden, ich komme immer in`s Meditieren und Glossieren. 

Homer gilt traditionell als Autor der Ilias und der Odyssee und damit als frühester Dichter des Abendlandes. Weder sein Geburtsort noch das Datum seiner Geburt oder das seines Todes sind zweifelsfrei bekannt. Es ist nicht einmal sicher, dass es Homer überhaupt gab. Dasselbe könnte man – gewissermaßen – über Polgar sagen. 

Musil sagte, ein Interview mit Polgar zu führen sei schwieriger als eine Forelle mit der Hand zu fangen. Die Odyssee hat jedenfalls James Joyce in Triest und Zürich geschrieben. Vielleicht sind die Odyssee und die Ilias aber auch gar nicht geschrieben worden. Oder von Köhlmeier. 

Interessant wären natürlich die Frauengeschichten Homers, aber da steckt die Forschung noch in den Anfängen. Ganz sicher jedenfalls ist, dass der Geburtsort Homers Izmir in der Türkei ist. Falls er geboren worden ist. Es ist nicht so leicht, unter solchen Umständen einen Roman über Homer zu schreiben. Sogar einer wie Alfred Polgar kann daran scheitern. Einen Roman über Homer zu schreiben ist schwieriger als eine Forelle mit der Hand zu fangen.

8. Marlene Dietrich ist ein eigenes Kapitel. Um sie geht es im längsten Text, den Polgar jemals geschrieben hat – 70 Seiten – aber auch der ist natürlich kein Roman, sondern ein etwas lang geratenes Portrait, ein Bio-Pic, wie man heute sagt, nicht zufällig erst postum erschienen. 

Und die Bekanntschaft mit Marlene Dietrich hat übrigens auch nicht Polgar selbst gemacht, sondern Polgar-Fan Carl Seelig, der sich ohne Polgars Wissen an die Dietrich gewandt und sie auf Polgars bedrängte ökonomische Situation und seine psychische Belastung aufmerksam gemacht hatte: Er kann keine Romane schreiben. Die epische Großform setzt ihm Widerstände! 

Dietrich spendete einen größeren Dollar-Betrag. So willkommen mir diese Hülfe ist, so viel Peinliches hat die Sache doch für mich, und ich wälze das Problem, wie ich mich nun zu benehmen habe, schrieb Polgar. Einen Roman über die Dietrich schreiben? Polgar war so arm, dass man ihm den elektrischen Strom sperrte, und um seine Stenotypistin bezahlen zu können, musste er sich im Kaffeehaus vom Kellner das Nötige ausborgen. Die Arbeit am Homer-Manuskript ging aber mit oder ohne Stenotypistin nicht voran.

Vielleicht wenn er Homer in die States hätte reisen und dort Marlene Dietrich treffen hätte lassen, wenn aus dem Treffen von Homer und Marlene Dietrich nach und nach eine schöne Bekanntschaft hätte werden können, Rückblenden was das Zeug hält, Marlene erzählt Homer von Deutschland, Homer Marlene von Griechenland und Izmir – oder Homer verliebt sich unglücklich in Marlene Dietrich und schmachtet und leidet, oder Homer bearbeitet die Odyssee in den States als Rockoper, Marlene Dietrich inspiriert Homer zur Figur der Penelope, der Frau des Odysseus, wenn ich an all die Freier denke, du lieber Himmel, was sich da alles für erzähltechnische Möglichkeiten ergeben… ergäben… 

Das Problem war: Polgar schrieb zu geschliffen: Mit der rechten Hand schrieb er, mit der linken Hand schliff er, das heißt, mit der linken Hand schliff er alles wieder weg, was er mit der rechten geschrieben hatte, so entsteht kein Roman, so kann kein Roman entstehen. 

Carl Seelig und Ulrich Weinzierl, also die Mitwelt und die Nachwelt Polgars, wären selbstverständlich empört, könnten sie diese meine Sätze lesen, aber sie können glücklicherweise nicht mehr empört sein, und Wahrheit bleibt Wahrheit, also schreibe ich sie.

9. Nach dem Krieg kehrte Polgar von ein paar Besuchen abgesehen nicht mehr nach Österreich und Wien und in die Stallburggasse 2 zurück: Die war von Nazi-Raubrittern okkupiert. Bei seinen spärlichen Wienaufenthalten wohnte Polgar im Grabenhotel gleich um die Ecke, dauerhaft aber in Zürich im Hotel Urban, gleich neben dem Café Odeon. 

Seine Frau Lisl im Zimmer daneben. Der Dichter und seine Frau im Hotel in zwei getrennten Zimmern – ein Klassiker: Aber Alfred Polgar hat ihn nicht geschrieben. In Polgars Hotelzimmer im Hotel Urban in Zürich gleich in der Nähe des Limmatquais befand sich ein Aquarium mit einer Forelle. Die späte Hotelzimmerexistenz hatte sich Polgar von Peter Altenberg abgeschaut, der seine letzten Lebensjahre eben in diesem Grabenhotel verbracht hatte. 

In der Nacht des 23. April 1955 überfiel Polgar in seinem Zürcher Wohnhotelzimmer plötzliche Übelkeit, er rief, ohne seine Frau im Zimmer nebenan zu wecken, den Hotelportier an, der einen Arzt anrief, der den zweiten Herzinfarkt diagnostizierte und den Tod Polgars feststellte.

Von Egyd Gstättner soeben erschienen:



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Egyd Gstättner

Egyd Gstättner (* 25. Mai 1962 in Klagenfurt) ist ein österreichischer Publizist und Schriftsteller. Egyd Gstättner studierte an der Universität Klagenfurt Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Germanistik. Schon während des Studiums begann er mit Veröffentlichungen in Zeitschriften wie manuskripte, protokolle, Literatur und Kritik oder Wiener Journal. Seit seiner Sponsion 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Klagenfurt, wo er zahlreiche Essays u. a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Presse, Falter, Kurier und Die Furche verfasste. Besonders bekannt wurde er im Süden Österreichs mit seinen Satiren in der Kleinen Zeitung. Darüber hinaus schrieb und gestaltete er Features für die Österreichischen Radioprogramme Ö1 und Radio Kärnten sowie für den Bayerischen Rundfunk.1993 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1990 erschien die erste eigenständige Buchpublikation („Herder, Frauendienst“ in der „Salzburger AV Edition“). Bis 2018 wurden insgesamt 34 Bücher Gstättners bei Zsolnay, Amalthea, in der Edition Atelier und seit 2008 im Picus Verlag Wien publiziert. Seit 2016 hat er einen zweiten Wohnsitz in Wien. Gstättner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

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