Diethard Sanders
Ostalpenländischer Stadtverkehr
Aus der Satirenreihe:
Abgründe alpenländischen Alltags

Im Angesicht der wieder anschwellenden Adventmarkts-Blechlawinen sei hierunter eine zwar in locker anekdotischer, jedoch um nichts weniger als eindringlicher Weise gehaltene Warnung ausgesprochen, sich mit dem PKW in eine alpenländische – pardon! ostalpenländische – Stadt zu verirren.

Wenn man von den bewaldeten Hängen, saftigen Matten, Schutthalden und Felswänden der Umgebung einmal absieht, sehen ostalpenländische Städte im Satellitenbild anderen Städten sehr ähnlich. Meist an einem Fluss oder an der Vereinigung zweier Flüsse erbaut, meist im Mittelalter oder während der frühen Neuzeit zum Stadtrecht gelangt, wuchsen sie in den Wechselfällen der Geschichte heran, blühten und gediehen, mal mehr und mal weniger. Was die ostalpenländische Stadt wirklich von allen anderen Städten der Erde unterscheidet, kann man nur am Boden und nur im Auto erleben. Man wird als ein Gezeichneter zurückbleiben.

Auf der Autobahn geht noch alles glatt. Zentraleuropäischer Normalbetrieb: die rechte Spur von zähflüssigem Verkehr einer kaum jemals unterbrochenen Kolonne von Sattelschleppern belegt; und die linke Spur mit rasenden Kleinlastwagen, Baustellen-Mannschaftsbussen, Motorrädern, Urlaubern und desgleichen voll ausgelastet. Weh dem, der diese traute Sicherheit der Autobahn verlässt und abzweigt. 


Lasst alle Hoffnung fahren!

Die erste Ampel war zu erwarten. Das ist normal. Sie steht auf rot. Der Verkehr muss halt um der Sicherheit willen geregelt sein. Wir sind erwachsen und vernünftig. Dazu gehören auch Ampeln. Weiter geht’s. Die nächste Ampel, bereits in etwa hundert Metern. Sie ist rot. Dann geht es weiter. Die folgende Ampel sieht man schon aus gut 150 Metern Entfernung. Sie steht auf grün. Kaum hat man das festgestellt, wird man von mehreren PKWs überholt, die mit einer Geschwindigkeitsdifferenz von geschätzten 50–80 km/h an einem vorbeirasen. Wow! – wahrscheinlich eine Verbrecherjagd! Oder ein illegales Straßenrennen. Diese Rowdys. Man sieht sie weiter vorn bei Grün durch die Ampel rasen, die allerdings bei Annäherung mit zugelassener Höchstgeschwindigkeit rechtzeitig auf rot springt, um einen zum Anhalten zu bringen. 

Die nächste Ampel folgt in kaum 50 Metern Distanz. Sie ist rot. Wo die Rowdys inzwischen wohl schon sind? Dann geht’s weiter: 80 Meter, dann wieder rot. Dann volle 200 Meter (in Worten: zweihundert) am Stück, ohne Ampel. Dann wieder Ampel, rot. Nächste Ampel schon in 40 Metern (ein kleiner Kiosk steht am Strassenrand), natürlich rot, damit man auf keine blöden Gedanken kommt. 90 Meter, Ampel, rot. 135 Meter, Ampel, rot. 25 Meter, Ampel, rot. 85.5 Meter, Ampel, rot. . .

. . . irgendwann beginnt die Aufmerksamkeit zu ermatten, die Gedanken schweifen ab. Man steht vor einer roten Ampel und denkt an die schönen Dinge des Lebens – bis man durch ein wütendes Hupkonzert von hinten jählings wieder in die Gegenwart zurück gerissen wird. Oh Gott, die Ampel ist auf grün gesprungen! So bald schon? Das konnte man ja nicht ahnen.

Ganz automatisch drückt man stärker aufs Gas, da sieht man schon die nächste Ampel. Das Ding steht auf grün, kein Zweifel möglich. Die will mich wohl provozieren, was? Na warte, du Biest, dir werd ich’s zeigen! Da wollten schon ganz andere. . . der Motor heult auf, dritter Gang, vierter (ein Fußgänger rettet sein nacktes Leben durch einen gewagten Sprung), fünfter, gib ihm, man überholt mit einer Geschwindigkeitsdifferenz von geschätzten 100 km/h einige lahme Enten und rast gerade noch durch die Ampel, die soeben auf gelb springt, doch schon lockt die nächste: verführerisch-kokett blinkt sie schon auf Grün, sich ihrer selbst ein wenig zu sehr sicher, aber warte Baby, hier komme ich, und . . . jaaa!, auch die konnte man noch knacken! 

Leider wird man dann von einem unerklärlich langsamen Fließverkehr aufgehalten (man muss voll auf die Bremse treten, aber wozu hat man ABS?), sonst hätte man sicher auch die nächste Ampel noch geschafft. Der Erziehungseffekt ist gelungen: Wer mit ungefähr 150-180 km/h von einer Ampel zu nächsten fährt, hat gute Aussichten, über zwei oder sogar drei Kreuzungen in Folge zu kommen; man munkelt, dass unlängst ein eingebürgerter tadschikistanischer Berufs-Rallyefahrer sogar vier geschafft hat.

Ostalpenländische Verkehrsexperten geben als Begründung für die roten Ampeln den starken Verkehr an, doch wenn man ehrlich ist, ist der Verkehr nicht wesentlich stärker als in den Mega-Städten fernöstlicher Tigerstaaten. Vielleicht liegt es daran, dass unsere Städte von den sie umgebenden Alpen eingeengt sind? Klingt erst mal logisch – zu wenig Platz zwischen den Felsen. Man nimmt sich vor, die Sache selbst genauer zu analysieren. Ein ideales Anwendungsfeld für die Topologie, vereinfacht gesagt, die Lehre von der relativen Anordnung und den Verknüpfungen geometrischer Gebilde. 

Doch ein topologischer Vergleich der Verzweigungsnetze der Strassen alpenländischer Städte (mit roten Ampeln und Dauerstau) mit den Verzweigungsnetzen außeralpiner Städte (mit grünen Wellen und Fließverkehr) ergibt ein negatives Resultat: beide Stadt-Typen haben ähnliche Verzweigungsmuster mit ähnlicher Varianz. 

Eine statistische Analyse zeigt, dass die Straßendichte pro Fläche und die mittlere Länge der Straßen zwischen zwei Kreuzungen sich ebenfalls bei alpenländischen und nicht-alpenländischen Städten in derselben Bandbreite bewegt. Auch beim Vergleich der Straßenbreiten: Fehlanzeige!

Was also zum Teufel ist das Geheimnis der alpenländischen Stadt-Ampeln? Wieso stehen die immer auf rot? Würde eine alpenländische Stadt-Ampel auch stets rot zeigen, wenn man sie in eine außeralpine Stadt verpflanzt? Hat es also etwas mit der Umgebung zu tun? Oder ist das permanente Rot-Sein in der alpenländischen Stadt-Ampel genetisch vorprogrammiert? Haben alpenländische Stadt-Ampeln ein Geschlecht? Auf welche Weise vermehren sie sich? Durch Samen? Oder windgetragene Sporen? Wechseln sie nachts heimlich die Position? Bewegen sie sich kriechend oder springend fort? – Fragen über Fragen, die einen bis in die Träume verfolgen und die Nächte zur Hölle werden lassen. . . endlich ist man reif für eine psychiatrische Sedierung. 

Nach der Entlassung führt eine Psychotherapie mit begleitender Selbsthilfegruppe immerhin dazu, dass man sich wieder aufs WC wagt, ohne dass man dazu eine grüne Ampel benötigt. Langsam kämpft man sich wieder ins normale Leben zurück. Und doch bleibt etwas anders als früher. Man sitzt stumpfen, gebrochenen Blicks in seinem Auto und steigt etwa alle 100 Meter automatisch auf die Bremse. Auch ohne Ampel!

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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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