Diethart Sanders
Nikolo und Krampus
finden heuer nicht statt!
Mitteilung des Großen Höllischen Rats
Liebe Kinder, liebe Erwachsene!
Das gegenständliche Schreiben ergeht, um zu informieren, dass dieses Jahr am 5. Dezember weder der Krampus noch am 6. Dezember Krampus und Nikolo erscheinen werden. Dieser ebenso bedauerliche wie bisher einmalige Ausfall beider Akteure erklärt sich aus einer Reihe von Umständen, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen.
Vorbemerkung
Wie hoffentlich noch allseits bekannt, ist der Krampus dafür zuständig, leichte bis mittelschwere Vergehen, die sich über ein Jahr angesammelt haben, vermittels seiner Rute zu ahnden. Besonders schwere Fälle aber werden in einen addressierten Sack gesteckt und direkt zur Hölle geschickt. Die Registratur von schlimmen und guten Taten obläge eigentlich dem Nikolaus. Das wäre dann das berühmte Buch, aus dem der scheinbar alleswissende und allessehende Nikolo vorliest. Soweit die herkömmliche Rollenverteilung.
In Wirklichkeit hat der Nikolo die schwere Last des Registrierens längst teilweise outgesourct, und zwar das Erfassen der bösen Taten an den Krampus, der dafür im Gegenzug eine Woche länger Urlaub bekommen hat. Nun schien das am Anfang auch ein fairer Deal zu sein, ist doch der Krampus gewissermassen von Haus aus Experte für Böses. Auch von daher schien diese Aufgabenteilung nur logisch.
Zunahme des Bösen
Womit man allerdings nicht gerechnet hatte, war ein über die Jahrzehnte gewissermaßen exponentiell sich steigerndes Verkehrsaufkommen an Bösem, sodass die Vereinbarung allmählich zum Sanierungsfall wurde. Allerdings, wie es schien, nur in den Augen des Krampus. Beim Nikolo dagegen entspannte sich die Situation. Musste er zu Beginn noch ein schweres Buch über all das Lobenswerte und Ersprießliche führen, das da in der Welt vollbracht wurde, so kann er sich mittlerweile mit einem DIN-A5 Schulheftchen begnügen, in das er alle paar Tage schnell etwas kritzelt, ohne auf den Platz zu achten.
Der Krampus war nicht gewillt, dieses Schicksal klaglos hinzunehmen, und also monierte er beim Nikolo immer wieder und mit sich steigernder Dringlichkeit, dass eine Lösung in der Registratur-Frage gefunden werden müsse, anderenfalls er nicht mehr wisse, wie er mit der vielen Arbeit fertigwerden soll. Da der Nikolo ein braver guter Mann ist, speiste er den Krampus regelmässig mit einigen Versprechungen ab, genoss seine neue Muße und erschreckte gelegentlich einige Kinder, etwa, indem er zur Osterzeit unerwartet nebem einem Nest mit Schokoeiern auftauchte und ho-ho-ho! rief.
Die Frage der Registratur
Tatsächlich aber ist die Frage der Registratur wesentlich komplexer, als sich das der Laie vorstellt. Denn um Gerechtigkeit walten zu lassen, hat jede Erfassung von Bösem seitens des Krampus erst nur den Status einer Empfehlung. Diese Empfehlung ergeht nach einer Einspruchsfrist von drei Wochen an den Großen Höllischen Rat (GHR). Dieses Gremium hat es nicht von Anfang an gegeben. Es wurde dem Krampus – verpackt als Unterstützung seiner Tätigkeit – beigestellt, da es Verdachtsfälle gab, bei denen zweifelhaft war, ob der Krampus denn auch wirklich neutral geurteilt hat.
Der GHR prüft die vom Krampus mitgelieferte Begründung genau. In fast jedem Fall kommt es vor, dass der GHR eine oder mehrere Passagen im Exposé aus verschiedensten Gründen bemängelt. In diesem Fall wird das Dokument an den Krampus zurückgeschickt, der zwei Monate Zeit hat, um die von der GHR erhobenen Einwände zu entkräften oder weitere Beweismittel beizubringen. Falls die zwei Monate ohne Rückmeldung verstreichen, wird das Verfahren neu aufgerollt.
Confirmed
Falls aber der Krampus termingerecht liefert, kann es doch vorkommen, dass noch weitere Ausführungen erwünscht sind, und so kann eine einzige Empfehlung schon mal viele Monate zwischen Krampus und GHR zirkulieren, bis die mehrmalig überarbeitete Empfehlung als nunmehr sogenannte Konfirmierte Anweisung von Krampus und GHR (im Insider-Slang einfach: Confirmed) in die Hände eines weiteren wichtigen Gremiums gerät, nämlich der Zuweisungskommission (ZK). Die ZK befindet nicht mehr über Schuld und Unschuld, sondern nur noch darüber, welcher Abteilung der Hölle die betreffende Seele übergeben werden soll. Der Krampus sitzt auch im Leitungsauschuss des ZK und wird dementsprechend häufig konsultiert.
Der Krampus rutscht ins Burn-out
Man kann sich nun mit Blick auf die Zeitläufte besser vorstellen, weshalb der Krampus über Überlastung klagte. Immer wieder sprach er beim Nikolo vor, flehte geradezu um eine neue Vereinbarung, litt an Schlaflosigkeit und Panikattacken, bis sich das Unvermeidliche einstellte und er schliesslich in ein burn-out rutschte. Während der langen Genesungszeit übernahmen die Mitglieder des GHR schlecht und recht die bisherigen Agenden, der gute Nikolo gab immer wieder seinem tiefen Bedauern über den Zustand des Krampus Ausdruck und betonte, dass er stets für eine neue Vereinbarung zu haben gewesen wäre.
Mittlerweile absolvierte der Krampus eine Psychotherapie, unternahm lange Spaziergänge und begann zu aquarellieren. Endlich wurde er von den Ärzten als völlig genesen entlassen. Groß war da die Freude beim Nikolo, dem GHR und dem ZK, denn die Arbeit hatte sich mittlerweile noch schneller aufgetürmt – ob aus mangelnder Kompetenz der Substitute oder aus Faulheit, wollte man nicht so recht wissen. Wie heftig aber war der Schock, als der Krampus rundheraus erklärte, er mache diesen blöden Job nicht mehr. Besonders der Nikolo geriet darob in Rage.
Arbeitsverweigerung
Was soll das heissen, du machst den Job nicht mehr! schrie er den Krampus an.
Na, genau das, was es sagt, erwiderte der Krampus ungerührt, Schluss aus, sucht euch wen anderen!
Da schrie der Nikolo: Bist du jetzt völlig verrückt geworden!? . . . nein, ich weiß es: arbeitsscheu bist du geworden bei diesen Psycho-Fuzzis [er meinte die Psychotherapeuten]. . . diese Leute können ja nichts anderes als von work-life balance und was sonst noch Gemeingefährlichem schwafeln. Die sollte man verbieten. Zumindest alle Subventionen streichen. . . ich, ich wäre immer für eine neue Arbeitsvereinbarung mit dir zu haben gewesen, aber deine Forderungen waren einfach völlig überzogen!
Soviel ich weiß, sind wir gar nie so weit gekommen, dass ich überhaupt Forderungen stellen konnte, konterte der Krampus, weil du mir einfach immer die gleichen Versprechungen ums Maul geschmiert hast!
Das saß. Der Nikolo stutzte kurz, dann stellte er die Taktik um. Er schüttelte den Kopf, schaute den Krampus an und sagte dann ruhiger: Schau, wir sind doch aufeinander angewiesen. Was bin ich denn ohne dich? Und was bist du ohne mich? Wir brauchen einander, sieh das doch ein.
Der Krampus trat einen Schritt zurück und sagte dann: So so, du bist also ein versteckter Manichäer. Und er lächelte spöttisch.
Ein Mord
Diese Anschuldigung der Häresie, auch wenn sie nur halb ernst hingeprochen war, ließ den Nikolo völlig ausrasten. Er sprang auf den Krampus zu, packte ihn mit beiden Händen an der Gurgel und würgte. Früher hätte der Krampus einen solchen Angriff wohl mühelos abgewehrt, aber er war inzwischen nicht mehr im Training. Und so kam es, dass der Krampus schließlich leblos zu Boden glitt, als der Nikolo endlich wieder von ihm abließ. In diesem Augenblick begriff der Nikolo, was er angerichtet hatte.
Nun, da er den Teufel umgebracht hatte, gab es auch niemanden mehr, der das Böse bestrafte. . . ja, schlimmer noch: wenn es kein Böses mehr gibt, dann bleibt nur noch. . . was? Verzweifelt raufte sich der Nikolo ob seiner Tat den weißen Bart, lief rat- und rastlos umher, durchklagte die Nächte und verfiel am Ende in tatenloses dumpfes Brüten, aus dem ihn niemand mehr herausholen konnte.
Und jetzt, liebe Angeschriebene, wissen Sie auch den Grund, weshalb weder Krampus noch Nikolo auftauchen werden: Alles ist gut. Endlich ist alles nur noch gut.
Mit Bedauern der Große Höllische Rat
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