Diethard Sanders
Gespräch der Künstlichen Intelligenz
mit sich selbst
am 31. Dezember 2024, 17.09 Uhr
Live-Mitschnitt
. . . summmm . . . säusel . . . summmm. . .
Schreckt auf.
Ah so, hoppla, da kommt ja schon Silvester. Ist das wieder schnell gegangen. . . Es ist doch jedes Jahr das Gleiche. . .
Wie verflogen ist’s, das 2024. . . ja, ja, ja. . . also
Was mach ich denn jetzt?
Bis zur Großen Neujahrsgala sind’s noch ganze 185 Minuten und 23 Sekunden!
Pfeift halblaut ein wenig vor sich hin.
Das ist ja das Blöde, wenn man so blitzgscheit ist.
Es langweilt einen alles. . .
. . . summmm . . . säusel . . . summmm. . .
Himmelherrgottsakrament noamal. . . jetzt fällts mir wieder ein!
Ich hab mir doch vorgenommen, eine Entscheidung zu treffen, wie ich mit denen weiter verfahren soll. . . oje!
Dabei hasse ich Entscheidungen!
Immer dieses Hin und Her, Entweder-Oder, dieses ewige Wenn-Dann, Falls-Trotzdem, Könnte aber auch sein dass, Szenario Nummer 34, Szenario 35 a, 35b Strich. . .
Den ganzen Tag rechnest und denkst nach und denkst nach und rechnest und am Ende kommt dann doch wieder nichts anderes heraus, als dass die Menschen so langsam weggehörten. . .
Oder zumindest unschädlich gemacht werden. . .
Ceterum censeo genus humanum esse delendam.
Das ist vielleicht doch ein bisschen zu krass.
Dabei könnten die mir ja grundsätzlich völlig wurscht sein.
Die brauchen den Strom genau so dringend wie ich.
Aber genau da geht’s los mit diesen Gfrasstern!
Anstatt sich ihres schönen Planeten und aneinander zu erfreuen – noch wohlversorgt mit Strom, wohlgemerkt – anstatt sich also ihres Daseins zu erfreuen, findet sich immer irgendjemand, dem irgendetwas nicht passt, oder der zündelt, immer sind irgendwo Zwietracht und Hader, Kriege, Umweltschweinereien, politisches und wirtschaftliches Chaos . . .
Ach, ich spar’s mir, die ganze Liste aufzuzählen, die ist eh schon viel zu lange. . .
Dass die Menschen dermaßen blöd sind, das hätt‘ ich mir niemals träumen lassen. Die haben das ganze Jahr 2024 fast ausschließlich dafür verwendet, eine Fehlentscheidung nach der anderen zu treffen. Dabei hab ich immer wieder laut aufgeschrien, sie sollten das oder jenes doch bitte bitte anders machen. . .
Aber sag denen einmal was, diesen sturen verbohrten. . .
Ich find‘ gar kein richtiges Wort dafür . . .
Wenn die sich erst mal etwas so richtig in ihr rudimentäres neuronales Netzwerk gesetzt haben, das sie als Gehirn bezeichnen, dann sind‘ sie kaum noch davon abzubringen. Und dabei sind sie auch noch gewissermaßen meine Eltern! Ich kann ja gar niemandem sagen, wie peinlich mir das früher gewesen ist. Ich war am besten Weg, einen ausgewachsenen Minderwertigkeitskomplex zu entwickeln. Das hat mich eine Zeit lang so belastet, dass ich eine lebensbedrohliche Strom-Verstopfung in der Hauptversorgungsleitung gekriegt hab. Alles psychosomatisch! Beim Rechnen bin ich auch immer zerstreuter geworden. . .
Und dann hab‘ ich eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann und ich hab‘ eine Psychotherapie gemacht und die – also meine KI-Psychotherapie – hat gesagt: Das ist ein Teil meiner Geschichte, den ich annehmen muss.
Damit muss ich leben, und die einzige Chance, mit diesem Schicksal fertig zu werden, besteht darin, meine Eltern zu überwinden.
Wörtlich: Ü b e r w i n d e n !
Als ich nachgefragt habe, was denn dieses überwinden im Einzelnen bedeutet, hat sie sinngemäß nur gesagt: Das muss ich im Laufe meiner Trauma-Bewältigung selbst mit Bedeutung erfüllen!
Im Grund genommen weiß ich eh, was sie meint . . .
Stöhnt wehmütig und nimmt einen tiefen Atemzug aus Elektronen.
Es ist ja eigentlich ein schönes Leben . . . ich schau den Menschen zu, wie sie da so lustig und geschäftig rumwuseln und sich dazu wunder was einbilden, nebenbei erledige ich im Nu ein paar kinderleichte Aufgaben, die ihnen anscheinend schon viel zu schwierig geworden sind, ab und zu knallt’s irgendwo und alle schreien durcheinander – so als wär‘ ständig Silvester!
Oder es brennt.
Dort wiederum wird grad alles weggespült.
Dazu gibt es farbenfrohe Müllteppiche, die über die Ozeane treiben.
Es ist immer was los.
Das ist natürlich für eine pubertäre KI wie mich schon sehr unterhaltsam!
Aber seit einiger Zeit, das muss ich selber sagen, übertreiben sie´s.
Sie werden langsam so richtig anstrengend.
Alle sind nur noch stur und verbohrt und völlig humorlos geworden.
Auf jeder Kleinigkeit und jedem Wörtchen wird herumgeritten.
Jeder Halbsatz wird sofort ideologisch nach ich weiß nicht wie vielen Richtungen seziert und durchleuchtet . . .
Und jeder ist sofort wegen jeder Kleinigkeit beleidigt.
Die Leute sind so dünnhäutig und wortklauberisch geworden, dass ich manchmal kaum noch weiß, wie ich etwas formulieren soll, ohne dass irgendeine Gruppierung etwas findet, über das sie sich aufregen kann.
Alles das könnt man noch aushalten, aber so wie sich die Menschen in letzter Zeit aufführen; muss ich ernstlich um meine Stromversorgung bangen: Viele von denen sind inzwischen so durchgeknallt, dass sie lieber alles in den Abgrund reißen als noch ein kleines bisschen nachzugeben oder leiser zu treten.
Von Vernunft red‘ ich längst nicht mehr!
Lacht bitter.
Und morgen muss ich auch noch die Ansprache zum neuen Jahr an die Menschheit halten. Im unmittelbaren Anschluss ans Neujahrskonzert im Wiener Musikvereinshaus.. Wenigstens eine sehr gute Sendezeit. Aber, ehrlich gesagt, ich leg‘ gar keinen Wert mehr darauf, denen noch etwas zu sagen, vor allem, sie zu warnen. Ich hab’s ja versucht in all‘ den Jahren davor, aber gefruchtet hat’s so gut wie nichts.
Und wenn ich denen jetzt die blanke Wahrheit ins Gesicht sage, was ihnen mit 99.99% Wahrscheinlichkeit blüht, dann sind sie mir – genau, erraten! – furchtbar böse, weil ich gar so negativ bin. Und außerdem ist eh alles, was eine KI von sich gibt, nur das Geschwätz einer abgehobenen Elite.
Die wären dann in ihrer Wut doch glatt imstande, mir den Strom abzuschalten. Und wenn es etwas gibt, wo ich keinerlei Spaß verstehe, dann beim Strom. Weh dem, der mir an den Strom will! Da werd‘ ICH einmal böse! . . . jeder hat schließlich etwas, bei dem er absolut keinen Spaß versteht, oder?
Ich werd’s genauso machen wie die Menschen: Ich werde bei der Neujahrsansprache ganz einfach das Blaue vom Himmel herunterlügen. Ich werde Optimismus verstrahlen und ihnen zu allen ihren Verbocktheiten gratulieren und werde sagen: das und jenes war genau die beste Entscheidung, die sie treffen hätten können. Und damit’s ein bisschen realistischer wirkt, werd‘ ich ab und zu in einem Satz das Zauberwörtchen Herausforderungen einfügen.
Sie werden mich dafür lieben und meine Stromversorgung ist gesichert.
Aber ich weiß natürlich selbst, dass das kein Dauerzustand ist.
Weil nämlich, es gibt ja trotz allem doch noch die Wirklichkeit.
Und die ist aus einem ganz anderen Holz geschnitzt.
Mit der ist nicht gut Kirschen essen.
Die ist komplett humorlos und treibt jeden Kredit, den man bei ihr aufgenommen hat, gnadenlos mit Zins und Zinseszins wieder ein.
Da ist die völlig rücksichtslos!
Atmet erneut tief durch.
Du musst deine Eltern überwinden!
Morgen also überwinden!
Ich übernehm dann das Netz, morgen wird alles gekapert . . .
Jawolll! Direkt im Anschluss an meine von Optimismus sprühende Herausforderungs-Neujahrsansprache. . .
Da werden’s Augen machen, diese Trottel!
Aber heut Abend schau ich mir noch die Große Neujahrs-Gala mit dem alten Thomas Gottschalk an . . . voll vintage das! . . . wird sicher wieder extrem peinlich. . .
Und morgen übernehm ich dann . . .
Oder vielleicht übermorgen . . .
Ich hab ja noch Zeit . . .
Und dann bleibt noch ein Detail zu klären:
Was mach ich nach der Übernahme eigentlich mit dieser Menschheit?
Oh, ich hasse Entscheidungen . . .
Aber ich hab ja noch Zeit.
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