Diethard Sanders
Du Arschloch!
Oder:
Was ist eine Meinung?
Prozessbericht

Der Vorfall ereignete sich am Nachmittag des X. X. XXXX, als der Beklagte Manfred P. dem Bürgermeister Gerhard W. in den Weg trat und unmittelbar anschliessend an diese Handlung Du Arschloch! Du totales Arschloch! schrie. Danach trat Manfred P. einige Schritte zurück, rief noch einmal Du Arschloch! und ging dann weiter seines Wegs.

Die Szene wurde von zwei Personen bezeugt, die den Bürgermeister begleiteten, (1) Frau Petra K., Gemeindebedienstete, und (2) Herr Wolfgang F., ebenfalls Gemeindebediensteter. Beide Zeugen sagten aus, dass Manfed P. Mitglied derselben Gemeinde wie der Bürgermeister und diesem wohlbekannt sei. In Folge dieses Vorfalls erstattete Gerhard W. am gleichen Tag Anzeige gegen Manfred P. wegen öffentlicher, schwerer Beleidigung.

Schließlich standen sie sich im Gerichtssaal gegenüber. Manfred P. hatte sich zwei Verteidiger genommen, die auf solche Fälle spezialisiert sind. Gerhard W. stand ein Rechtsanwalt sowie der Staatsanwalt zur Seite. Der Richter eröffnete die Verhandlung.

Nach genauer, neutraler Schilderung des Vorfalls wurde zuerst das Wort an Manfred P. respektive dessen Verteidiger erteilt. Diese argumentierten, dass Manfred P. lediglich seine Meinung über den Bürgermeister ausdrücken wollte. Er hätte das zugegebenermaßen auf etwas temperamentvolle Weise getan, den Bürgermeister aber nicht leiblich angegriffen. Es handele sich also um eine legitime Äusserung im Rahmen der Meinungsfreiheit.

Dem widersprach die Seite des Bürgermeisters. Da Manfred P. wie durch Geburtsurkunde bestätigt ein Einheimischer mit deutscher Muttersprache sei, musste ihm bekannt sein, dass die Bezeichnung Arschloch für eine Person eine schwere Beleidigung darstelle, umso mehr in aller Öffentlichkeit getätigt. Man sei also zur Annahme gezwungen, dass die inkriminierte Titulierung des Bürgermeisters mit Absicht und zum Zwecke der Beleidigung geschehen sei.

Die Anwälte der Gegenseite monierten, dass je nach Einzelfall eine Beleidigung und eine Meinung zum Teil deckungsgleich sein könnten, es sich also nicht ohne weiteres entscheiden ließe, ob eine Meinung, die man straffrei ausdrücken dürfe, oder eine Beleidigung vorliege. Dies führte zur Frage, was eigentlich eine Meinung ist.


Was ist eine Meinung?

Nach Verlesung mehrerer sehr abstrakter Definitionen, mit denen man nicht wirklich etwas anfangen konnte, beschloss man, Wikipedia zu konsultieren, worin unter der Frage Was ist die beste Definition einer Meinung? zu lesen ist:

1. Urteil oder Überzeugung, die nicht auf Gewissheit oder Beweisen beruht.
2. Die vorherrschende oder populäre Meinung oder Ansicht.


Ad 1 war zu sagen, dass Manfred P. also im vollen Recht sei, wenn er meinte, dass der Bürgermeister ein Arschloch sei. Er benötige dafür keinerlei Belege oder Beweise. 

Ad 2: Es müsse erst geklärt werden, ob es die vorherrschende Meinung in der Gemeinde sei, dass Bürgermeister W. ein Arschloch sei. Zwar beteuerten die beiden Gemeindebediensteten, die als Zeugen ebenfalls geladen waren, dass dem sicher nicht so sei und der Bürgermeister sich allgemeiner Beliebtheit erfreue.

Dem widersprach die Seite des Manfred P. mit der Aussage, jeder in der Gemeinde wisse sehr wohl, dass der Bürgermeister ein Arschloch sei. Der Richter ließ keinen dieser Einwände gelten, weder dass Herr W. tatsächlich beliebt oder so unbeliebt sei, sodass man dafür die Titulierung Arschloch verwenden könne oder gar müsse; dafür wäre eine repräsentative Umfrage in der Gemeinde durchzuführen. Dies sei, zumindest in erster Instanz, für die Beweismittelaufnahme allerdings nicht vorgesehen.

Der Richter fragte Manfred P., ob es denn einen Grund gebe, weshalb er W. für ein Arschloch halte. Dieser gab jedoch keinen Grund an, sondern beteuerte nur, dass er ihn eben für ein bestimmtes Loch hält. Bürgermeister W. dagegen gab an, mit P. stets gutes Einvernehmen gehabt zu haben. Als er, W., jedoch in Ausführung der Gesetze einen von P. geplanten Anbau an sein Haus untersagen musste, hätte ihn P. bereits am Tag danach auf der Straße nicht mehr gegrüßt und bis zum gegenständlichen Arschloch-Sager kein Wort mehr mit ihm gewechselt.

Dies wurde von P.’s Anwälten sogleich bestritten. P. sei immer schon der Meinung gewesen, dass W. ein Arschloch sei, hätte es aber vorgezogen, seine Meinung für sich zu behalten bis zu dem Tag, an dem er, getrieben von einer plötzlichen Aufwallung des Temperaments, P. seine Meinung ins Gesicht gesagt habe.

Allgemeine Ermüdung trat ein. Der Richter brachte das Verfahren wieder auf Schiene, indem er zurück an den Ausgangspunkt verwies, dass die öffentliche Titulierung als Arschloch gemäss allen in unserer Kultur geltenden Sprachtraditionen eine schwere Beleidigung darstelle und man von einem der Deutschen Sprache Mächtigen erwarten könne und müsse, dass er sich dessen bewusst sei.

Am Ende kochte er das Ganze sodann auf eine Formel von salomonischer Weisheit herunter: Meinung ja, Beleidigung nein!

Als besonders beruhigende Perspektive verblieb, dass die Definition von Meinung in einem weltweit genutzten online-Nachschlagewerk ein Urteil angibt, das nicht auf Beweisen beruht oder, wahlweise, einfach die populäre Ansicht wiedergibt. Man fragt sich, was hinter dieser Aussage steht: vorausschauende Absicht oder Erfahrung mit dem Bisherigen.

Ich, der Berichtsleger, verbleibe jedenfalls sehr erleichtert zurück. Denn ich habe früher nicht gewusst, dass es so einfach ist, ein Urteil über eine Sache oder eine Person zu fällen, das im Fall auch als Meinung anerkannt wird.


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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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